Unter dem Schatten

HINTERBLIEBEN Die Opfer vom Breitscheidplatz: Das sind natürlich die Toten, die körperlich Versehrten. Aber es gibt auch die, deren Wunden man nicht gleich sieht: Auf der Couch des Berliner Krisendienstes

Die Psychologin Monika Holz glaubt nicht, dass „die Stadt diesen Anschlag mal eben so verdaut“

von Anna Klöpper

Die ersten Tage nach dem Anschlag dachte die Frau noch, sie stecke das weg. Sie hatte gesehen, wie ein Mann, den inzwischen die halbe Welt als den abgelehnten tunesischen Asylbewerber Anis Amri kennt, mit einem Sattelschlepper am Abend des 19. Dezember eine Schneise durch den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz an der Gedächtniskirche pflügt. Wie die schweren Räder mit einem knirschenden Geräusch über Tannenbäume und Glühweinbuden und menschliche Körper fahren. Die Frau dachte, sie kann damit umgehen. „Dann brach sie aber, Tage später und scheinbar grundlos, immer wieder in Tränen aus und konnte sich das nicht erklären“, sagt Monika Holz vom Berliner Krisendienst, wo die Frau schließlich Hilfe suchte.

Elf noch im Krankenhaus

Die Nacht vom 19. Dezember. Zwölf Tote, darunter der polnische Lkw-Fahrer Lukasz Urban, den Amri im Führerhaus des Sattelschleppers erschoss. Sieben Tote waren deutsche Staatsbürger. Keine getöteten Kinder. 56 Verletzte, zwölf von ihnen schwer Verletzte. Elf Menschen liegen acht Wochen nach dem Anschlag noch in Berliner Krankenhäusern, teilt die Senatsverwaltung für Gesundheit mit. Es zeichne sich ab, dass einige nicht mehr gesund werden, sagt Berlins ehrenamtlicher Opferbeauftragter und Rechtsanwalt Roland Weber, der mit elf Familien von Getöteten und Verletzten in Kontakt steht und ihnen durch den Antragsdschungel der Entschädigungszahlungen hilft (siehe Infokasten Seite 44).

Die Opfer vom Breitscheidplatz, das sind natürlich die Toten, die körperlich Versehrten in den Krankenhäusern. Und es gibt diejenigen, deren Wunden man nicht gleich sieht: die Hinterbliebenen, Familien, Freunde. WeihnachtsmarktbesucherInnen wie die Frau, die die Bilder von jener Nacht im Kopf hat und nicht mehr los wird.

150 Männer und Frauen meldeten sich seit dem 19. Dezember allein bei den PsychologInnen und SozialarbeiterInnen des Krisendienstes. Ein Drittel, sagt Beraterin Monika Holz, seien direkt Betroffene: ZeugInnen des Geschehens, wie die Frau mit dem Kino im Kopf. ReporterInnen, die die ganze Nacht von der verstörenden Szenerie berichteten. Ersthelfer, wie der Mann, von dem Holz erzählt: der in der Situation selbst funktionierte, sich um Verletzte kümmerte – und hinterher merkte, wie sehr er sich selbst überfordert hatte. „Der Mann fragte sich später, warum er so oft den Druck verspürt, Verantwortung übernehmen zu müssen.“ Warum er nicht einfach wegrennen konnte.

„Flight or Fight“ heiße das in der Psychologie, sagt Holz. Und dass es keine Entscheidung sei, die man bewusst treffen könne: Das Gehirn schalte in eine Art Notfallmodus. Manche bleiben stehen und helfen, andere rennen weg. Holz hat in den Beratungen beobachtet, dass Männer, die weggerannt seien, sich hinterher eher mit Schuldgefühlen gequält hätten als Frauen. „Männer sind eher unter Druck, etwas tun zu müssen. Sie haben sich auch eher schuldig gefühlt, wenn sie es hinterher ein paar Tage nicht geschafft haben, zur Arbeit zu gehen“, sagt Holz. „Da spielen gesellschaftliche Zuschreibungen ganz offenbar eine Rolle.“

Ein Gefühl von Ohnmacht

Ein weiteres Drittel der Hilfesuchenden auf Holz’ Couch waren Angehörige, die sich sorgten. „Ein typischer Anruf war: ‚Mein Partner kann nachts nicht mehr schlafen, er zittert und hat diese Bilder im Kopf‘ “, sagt Holz.

Und dann, erzählt die Psychologin, gab es noch diejenigen, die eigentlich gar nicht unmittelbar von dem Attentat betroffen waren – die aber selbst schon mal ein starkes Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit erlebt hatten: weil sie Opfer eines Raubüberfalls wurden, weil sich ein Angehöriger das Leben genommen hat. „Dieses Gefühl, dass die Welt ein unsicherer Ort ist und man selbst hilflos – das kann durch so ein Ereignis wie am Breitscheidplatz mit Macht zurückkommen.“

Unmittelbar nach dem Anschlag wussten die Medien sehr wenig über die Opfer. Man kannte die Zahlen, aber die Opfer selbst sprachen nicht. Selbst in den Boulevardmedien fanden sich keine „Quellen aus dem Umfeld“, die zumindest über sie sprachen. Die junge Frau, die am 16. Januar in der Bild-Zeitung über den Verlust ihrer Eltern erzählte, war die Erste. Erst knapp zwei Wochen später fand die Süddeutsche Zeitung einen Glühweinverkäufer, dem der Lkw ein Bein zertrümmert hatte, als er seine Verkaufsbude streifte. In der Berliner Zeitung sprach ebenfalls eine Verkäuferin, die nachts trotz Tabletten nicht mehr schlafen kann.

„Was am Breitscheidplatz wirklich gut funktioniert hat“, sagt Opferbeauftragter Weber, „war die Abschirmung der Opfer vom öffentlichen Interesse.“ Weil die Zuständigkeiten noch am Abend von der Polizei an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ging, kamen die Reporter bei ihren üblichen Quellen nicht weiter. Und auch die Krankenhäuser schirmten die Patienten rigoros ab. „Niemand konnte den Opfern ein Mikrofon unter die Nase halten – und siehe da, man macht die Erfahrung, dass zumindest in der ersten Zeit auch niemand von ihnen das Bedürfnis hatte, zu reden“, sagt Weber.

Natürlich nicht, sagt Psychologin Holz. „Wir sind noch in einer frühen Phase der Bewältigung des Geschehenen.“ Die erste Phase, das ist die Schockphase, die Akutphase. Die Betroffenen fallen manchmal in eine Art Starre, spalten das schreckliche Erlebnis ab. So wie die Frau, die erst mal einfach weiter funktionierte, „wie auf Autopilot“, sagt Holz. Bei manchen dauert dieser Zustand ein paar Tagen, bei manchen kann das Wochen dauern. „In dieser Phase müssen die Leute geschützt werden. Wenn ich unter Schock stehe, bin ich nicht immer Herr der Lage.“

Als Nächstes, sagt Holz, kommen die Bilder, die Albträume, das Kopfkino. Die quälenden Fragen: Warum bin ich weggerannt? Oder auch: Warum nicht? Zwei Monate nach dem Anschlag ist das eine der häufigsten Sorgen, die die Krisenhelferinnen hören: Dass das jetzt nie wieder aufhört, dass man für den Rest seines Lebens zusammenzuckt, wenn ein Auto hinter einem scharf bremst. Oder dass man jetzt immer etwas „Großes, Dunkles“ auf sich zu rasen sieht, wie eine Frau es im Gespräch erzählte. Das sei im Moment noch alles normal, sagt die Psychologin. Aber man werde in den nächsten Wochen schauen müssen, wo es eine professionelle Traumatherapie brauche und es mit Gesprächen auf Holz’ Couch nicht getan ist.

Die Psychologin sagt, sie glaube nicht, dass „die Stadt diesen Anschlag mal eben so verdaut.“ Das „Große, Dunkle“, es wirft einen langen Schatten.