Avantgarde im Arbeiterlied

Ein vorsichtig optimistisches Werk, das Musiker und Zuhörer vor Sentimentalitäten bewahren sollte: Zum Tag der Deutschen Einheit spielen die Philharmoniker Hanns Eislers „Deutsche Sinfonie“

von Andi Schoon

„Die Volksfront braucht den fortschrittlichen Künstler, die fortschrittlichen Künstler brauchen die Volksfront.“ So sprach es Hanns Eisler 1937 und verfasste noch im selben Jahr einen Großteil seiner Deutschen Sinfonie, die die Hamburger Philharmoniker zum Tag der Deutschen Einheit in der Laeiszhalle spielen.

Die gesamte Entstehungszeit des Werkes erstreckte sich über fast drei Jahrzehnte: Begonnen 1930 unter dem Eindruck zunehmender Repression durch die Nationalsozialisten, abgeschlossen 1958, nach langen Jahren im Exil, als leidlich geduldeter DDR-Bürger. Zur ostdeutschen Uraufführung kam es ein Jahr später, während die Deutsche Sinfonie in der Bundesrepublik erst im Jahr 1983 zum ersten Mal gespielt wurde.

Obwohl die elfsätzige Arbeit insgeheim als Eislers Meisterstück gilt, stand sie seither auf kaum einem Spielplan. Ein Grund für diese seltsame Missachtung mag im hybriden Charakter des Werkes liegen. Musikalisch schwebte Eisler darin eine Zusammenführung der avantgardistischen Zwölftontechnik mit der agitatorischen Qualität eines Arbeiterliedes vor.

Schon im ersten Satz kristallisiert sich diese Haltung als Zwölftonreihe, aus der Eisler überraschend konsonante, leicht singbare Motive gewinnt. Sogar ein Zitat aus der „Internationalen“ mischt sich in das Präludium. Dem Chor aber schreibt Eisler vor, „sehr einfach, ohne Sentimentalität“ intonieren zu sollen – der sachlichen Textvorlage Bertolt Brechts entsprechend. Denn dies war das Ziel: Dem fortschrittlichen Arbeiter keinen pathetisch-aufbrausenden Kampfgesang, stattdessen ein besonnenes, argumentatives Werk als Zeichen gegen die eigene Verführbarkeit an die Hand zu geben.

Die Deutsche Sinfonie ist eine Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte, stellt aber thematisch den antifaschistischen Widerstand ins Zentrum. In der Musik scheinen die mehrfach auftauchenden Marschelemente den Weg vom Trauergestus zum Appellativen zu suchen. Es ist ein vorsichtig optimistisches Werk, und dass es rezeptionsgeschichtlich zwischen allen Stühlen landete, ist bedauerlich. Schön deswegen trägt die Idee, das Stück am Tag der Deutschen Einheit aufzuführen, als Ersatz für Beethovens Neunte mit ihrer schillerschen Beschwörung der Verbrüderung aller Menschen.

Ganz ohne Beethoven geht es zu dieser weihevollen Stunde trotzdem nicht: Die Philharmoniker werden die Beethovens Erste spielen, doch die beginnt immerhin mit einem dissonanten Septakkord und gibt ihr tonales Wesen erst nach und nach preis – und beginnt so schon einmal, das sinfonische Vokabular vorsichtig zu dehnen, das Hanns Eisler als Ausdruck des dekadenten Bürgertums begreifen und deshalb in seiner Deutschen Sinfonie im Ganzen übergehen sollte.

Sonderkonzert zum Tag der Deutschen Einheit: Mo, 3.10., 11 Uhr, Laeiszhalle