Hohe Konzentration

Sammelbecken oder Integrationswunder? Bei ihrer Gründung vor 60 Jahren erhielt Hamburgs spätere CDU merklichen Zulauf von Nazis, „Stahlhelmern“ und Deutschnationalen

„Die Parteien müssen sachliche Gegensätze haben, nicht persönliche“: Achim Helge von Beust

Von Bernhard Röhl

Der Sommer des Jahres 1945 bescherte den Überlebenden des Krieges in der Hamburger Trümmerwüste eine sonnige Jahreszeit. Im Haus Stralsunder Straße Nr. 1 fehlte in der letzten Etage die Mauer durch die Luftangriffe. So war es möglich, von der Straße aus in das Zimmer zu sehen. An einem Tisch saßen da Frauen und Männer, redeten, lachten und tranken. Die Gruppe schien das Überleben und die Freiheit in St. Georg zu feiern.

Im sonnigen Sommer vor 60 Jahren trafen sich zumeist im privaten Rahmen verschiedene Personen, um politisch wieder aktiv zu werden, so wie die eingangs skizzierten Sozialdemokraten und Kommunisten in St. Georg. Auch auf dem rechten Flügel begannen sich Leute zu treffen – bis hin zu den Kreisen unbelehrbarer Hitleristen.

Im Sommer und Herbst 1945 kamen Polizeiberichte zu dem deprimierenden Ergebnis, dass die Nazi-Bewegung wieder begonnen habe, aktiver zu werden. Die Kriminalpolizei konstatierte im September 1945: „Große Teile der Bevölkerung sind also ‚politisches Treibholz‘, und es kann nicht ausbleiben, dass sie die heutigen Zustände auch mit den gestrigen vergleichen und dabei der stillen Nazi-Propaganda ausgesetzt sind.“

Am 1. Oktober 1945 trafen sich 29 Personen, darunter vier Frauen, in der Wohnung des Schriftstellers Rudolf Beissel in der Hochallee 44, um die Christlich-Demokratische Partei (CDP) zu gründen. 17 der Gründungsmitglieder waren Katholiken, zwölf gehörten der evangelischen Kirche an. Die CDP beschloss 15 Leitsätze. „Der Nationalsozialismus hat Deutschland in ein Unglück gestürzt, das in seiner Geschichte ohne Beispiel ist“, heißt es im ersten. „Nie wäre das alles über Deutschland gekommen, wenn nicht weite Volkskreise von einem haltlosen Materialismus sich hätten leiten lassen.“

Punkt 10 dieser Hamburger Leitsätze lautete: „Die menschliche Arbeit wird gewertet als sittliche Leistung, nicht aber als bloße Ware. Das Recht auf Arbeit wird anerkannt. Der erwachsene arbeitende Mensch hat Anspruch auf eine Vergütung, die ihm die Gründung und Erhaltung einer Familie ermöglicht. Der Aufbau der Gewerkschaften oder sonstiger Berufsvertretungen ist zu sichern, die Sozialversicherung bleibt erhalten, ihre Verwaltung muss in die Hand der Beteiligten gelegt werden.“ Im 11. Punkt stand zu lesen: „Das Bodenrecht ist den veränderten Verhältnissen anzupassen. Die Frage der Sozialisierung ist eine Zweckmäßigkeitsfrage. Die Sozialisierung ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie (...) eine Besserstellung der im Betriebe Beschäftigten und der Volksgemeinschaft ergibt.“

Franz Beyrich (1887–1961) erhielt als Mitbegründer der Hamburger Christdemokraten die Mitgliedsnummer 1 und wurde stellvertretender Landesvorsitzender bis 1949, fungierte bis 1946 jedoch auch als wirklicher Parteichef. Bis zum Hinauswurf durch die NS-Diktatur hatte der Katholik Beyrich in der Sozialbehörde gearbeitet und von 1929 bis 1933 als Zentrumsabgeordneter der Bürgerschaft angehört. Die Verhaftungswelle nach dem 20. Juli 1944 erfasste auch ihn: Er wurde in Fuhlsbüttel eingekerkert. Hamburgs CDU ernannte ihn 1959 zum Ehrenvorsitzenden.

Zugleich hatte die CDP bei ihrer Gründung beschlossen, dass die Vorstandsmitglieder nicht Mitglieder der NSDAP oder ihrer Gliederungen gewesen sein sollen. Vize Beyrich blieb wirklicher Vorsitzender, denn die britische Militärregierung lehnte am 29. November 1945 den vom CDP-Beirat gewählten Vorsitzenden und Handelsvertreter Otto Wendt ab, weil er dem Militaristenverband „Der Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“ angehört hatte. Die Organisation bestand von 1918 bis 1934 und wurde als Wegbereiter des Faschismus in die SA überführt.

Von den Gründungsmitgliedern der CDP machte ein 1917 geborener Jurist eine beachtliche Karriere. Er wurde Vorsitzender der Jungen Union in Hamburg. In einem Zeitungsartikel kritisierte er am 13. August 1946 rückblickend das Parteiengezänk von alten Männern und jungen Greisen. Die Zukunft stellte er sich so vor: „Wir werden uns ein Deutschland schaffen, in dem es möglich sein wird, dass eine kommunistische Zeitung einem CDU-Vorschlag rückhaltlos zustimmt, wenn er gut ist. Und umgekehrt. Die Parteien müssen sachliche Gegensätze haben, nicht persönliche. Wir sind nicht auf das deutsche Trümmerfeld gesetzt worden, um unseren politischen Gegnern die Ziegelbrocken an den Kopf zu werfen, sondern um sie ihnen zum Aufbau zuzureichen.“ Dieser Christdemokrat übernahm 1954 den Posten des Bezirksamtsleiters von Wandsbek, er blieb es bis 1980. Es war Achim Helge Freiherr von Beust, der Vater des heutigen Ersten Bürgermeisters.

Einen Blick in die Statistik der ersten tausend Mitglieder der inzwischen CDU genannten Partei in Hamburg zeigt, dass mit 254 Mitgliedern, die ihre Zugehörigkeit zur NSDAP offenbart hatten, ein rundes Viertel zu diesem Personenkreis gehörte. Die CDU verfügte bereits 1946 über einen Generalsekretär, Dr. Carl Wilhelm Hauß, der die Jahre des NSDAP-Eintritts der CDU-Neulinge aufschlüsselte. 22 Mitglieder gehörten demnach zu den alten Kämpfern, die vor 1933 der Hitler-Partei beigetreten waren. Zwischen 1933 und 1934 zogen 81 der neu gebackenen Christdemokraten begeistert das Braunhemd an. Von 1934 bis 1937 folgten 14 Personen dem Ruf des Führers in seine Reihen. Und 137 nach 1937 beigetretene Leute marschierten vom Hakenkreuz unter die Fittiche der CDU. Hauß gab damals zu, dass 38 CDU-Mitglieder Amtsträger der Nazi-Partei gewesen waren. Auch von der antisemitischen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) schließlich kamen 36 Personen vor 60 Jahren zur Hamburger CDU.

In seiner Dokumentation „Von der ‚Arbeitsgemeinschaft‘ zur Großstadtpartei. 40 Jahre CDU in Hamburg (1945–1985)“ ordnet Helmut Stubbe-da Luz diesen Zustrom recht wohlwollend ein: Die „hohe Konzentration“ ehemaliger Parteigenossen sei „nicht zwangsläufig das Zeichen einer Neigung dieses Landesverbandes zum Rechtsextremismus“ gewesen. Vielmehr spricht der Verfasser, später ausgetretenes CDU-Mitglied, von einer „echten Integrationsleistung der Hamburger Christdemokraten“.