Leerstelle Ost

In Potsdam wird der Tag der Deutschen Einheit gefeiert, doch die Republik schaut auf Dresden. Im Poker um die Macht geht die katastrophale Lage der neuen Länder unter

Was, wenn kritischere PDS-Anhänger und heimatlose Linke doch ein neues Projekt schmieden?

Potsdam ist diesmal Ort der Feierlichkeiten für den 15. Jahrestag der deutschen Einheit – ein wahres Veranstaltungsmarathon wird in der brandenburgischen Landeshauptstadt zelebriert. Das Problem ist nur, dass die Aufmerksamkeit der Republik am Wochenende weit mehr auf Dresden gerichtet sein und am 3. Oktober der Frage gelten wird, ob Gerhard Schröder seinen Rückzug als Einigungsgeschenk präsentieren oder mit brachialer Sturheit vornan bleiben wird. Die weihevollen Feiertagsreden und Beschwörungen von Gemeinsamkeiten, herausgekramt in einer Pause des Koalitionspokers, werden noch mehr als üblich vorbeirauschen.

Welch geringen Stellenwert die ungelösten Probleme der Einheit, die wachsende Kluft zwischen den alten und den neuen Bundesländern im politischen Kräftehaushalt besitzen, haben die Monate des Wahlkampfs in aller Deutlichkeit gezeigt. Angela Merkel, immerhin Frau und Ostdeutsche, tat was in ihren Kräften stand, um sich beider Attribute zu entledigen. Ihre Ablehnung des Sonderwahlkampfs Ost mündete in einer westfixierten Überwölbungs-und Verdrängungsstrategie. Wie sagte ihr Vertrauter Dieter Althaus so schön: „Die Union setzt bewusst darauf, Wachstum und Beschäftigung zu stärken, das kommt auch den neuen Ländern zugute.“ Als sich dann Edmund Stoiber und General Schönbohm auch noch in Ossi-Bashing übten, Kirchhof’sche Steuergrausamkeiten drohten, kam die Quittung prompt.

Gerhard Schröder seinerseits setzte alles daran, ostdeutsche Hoffnungen auf ein rot-grünes Gerechtigkeitsprojekt, die ihm 1998 und vor allem 2002 zum Sieg verhalfen, gründlich zu zerstören. Mit Agenda 2010 und Hartz IV als Krönung räumte er den linken Teil des politischen Feldes so gründlich, dass sich dort die PDS als Partei der sozialen Gerechtigkeit reaktivieren konnte. Von Schröders vollmundiger Chefsache Ost blieb nicht viel mehr übrig als der windige Manfred Stolpe, der in seiner Karriere auch noch jeden Misserfolg schönreden konnte.

Auch die Grünen waren in Sachen sozialer Gerechtigkeit und Aufbau-Ost alles andere als ein verantwortliches Korrektiv. Ein Teil von ihnen wollte den Agenda-Motor noch hochtouriger laufen lassen, warnende Stimmen und Einzelkämpfer-Ost, wie etwa Werner Schulz, verhallten oder wurden gedeckelt.

In der Summe aller Wahrnehmungen ist in den neuen Bundesländern der Eindruck entstanden, abgeschrieben und abgehängt zu sein. Dieses Bewusstsein existiert nicht als Phantomschmerz oder eine Art Mauer in den Köpfen, der man volkspädagogisch oder mit Bildungsoffensiven begegnen könnte. Es spiegelt eine Realität wider, die bei allen Aufbauerfolgen und allem langfristig möglichen Optimismus, keinerlei Grund zum Feiern gibt.

Jenseits aller politischen Rhetorik und Parteiprogrammatik kommen Experten zu einigermaßen gleich lautenden Befunden, wenn es um die Verlaufskurve des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses geht. Konnte man bis in die zweite Hälfte der Neunzigerjahre hinein Indizien für eine gelingende Aufholjagd Ost reklamieren, schien sich der Entwicklungsabstand zu verringern, setzte in den folgenden Jahren eine Phase der Stagnation ein, der immer stärkere Tendenzen eines erneut wachsenden Abstands folgten. Entscheidende ökonomische und demografische Faktoren, wie die mehr als doppelt so hohe Arbeitslosigkeit, weitere Deindustrialisierung, Abwanderung und Verödung ganzer Regionen ließen die angestrebte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in weite Ferne rücken.

Die immer stärkere Öffnung der sozialen Schere als gesamtdeutsches Problem hat im Osten besonders verheerende Wirkungen. Fehlende Eigentums- und Vermögensbildung, das Erreichen des Rentenalters durch eine Generation mit mehr als durchlöcherten Erwerbsbiografien könnten aus den Neuen Bundesländern das künftige Armenhaus Gesamtdeutschlands machen. Ob die Ursachen dafür stärker in den realsozialistischen Hinterlassenschaften, Vereinigungsfehlern oder übergeordneten internationalen Entwicklungen liegen, ist Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen. Ebenso die Frage nach einer wirkungsvollen Strategie für den erfolgreichen Aufbau Ost.

Selbst Optimisten schätzen mittlerweile, dass die deutliche Verringerung des deutsch-deutschen Abstandsniveaus, der selbsttragende Aufschwung Ost und das relative Schließen der Entwicklungsschere nicht nur eine, sondern zwei Generationen brauchen wird. Damit hätten wir die Halbzeit des Vereinigungsprozesses ungefähr im Jahre 2020 und die kritischste Phase noch vor uns. In dieser Phase muss weder die bundesdeutsche Demokratie zugrunde gehen, noch müssen Weimarer Verhältnisse einziehen.

Dennoch könnte sie sehr ungemütlich werden, wenn es nicht gelingt, den Worten von der tätigen gesamtdeutschen Solidarität wirklich Taten folgen zu lassen. In weiten Teilen der alten Bundesländer wird Ostdeutschland als Ballast empfunden, wird die mit den Transferleistungen verbundene Alimentierung der Natur der Ostdeutschen zugerechnet. Eine Politik, die dem wirksam gegensteuert, den Osten zugleich unterstützt und fordert, den Westen nicht aus seiner Verantwortung entlässt, die am Aufschwung Ost als entscheidender gesamtdeutscher Herausforderung festhält – sie ist auch nach dem Wahlausgang nicht in Sicht.

Die CDU sieht sich um den greifbar nahen Sieg geprellt und kann die Schuldzuweisungen kaum noch unter der Decke halten. Ihr marktliberaler und primär westorientierter Flügel wird auch in einer großen Koalition nicht schwächer werden. Die SPD konnte in den letzten Monaten mit Sozialrhetorik erneut einige Punkte machen und kam dadurch im Osten mit einem blauen Auge davon. Ihre Führung denkt aber gar nicht daran, die unsoziale Reformstrategie zentral in Frage zu stellen. Weiter so – mit Korrekturen – scheint die Einigungsformel zwischen Schröder und Müntefering zu sein, während sich linke Sozialdemokraten an der Formel von der „sozialen Ergänzung des Agendaprozesses“ üben.

Die Feiertagsreden und Beschwörungen der Einheit werden diesmal noch mehr als üblich vorbeirauschen

Erneut bleibt nur die Linkspartei, die sich im Teil der PDS zum Interessenvertreter Ost erklärt hat und im Gesamtprogramm die neue Gerechtigkeitslücke in der Bundesrepublik in den Mittelpunkt rückt. Hier hat der Populismusvorwurf der Kritiker seine Berechtigung, alle Verweise auf den historischen Ballast der PDS und das zweifelhafte Führungspersonal, haben ihren wahren Kern.

Was aber, wenn die heterogenen Milieus der Linkspartei, die jüngeren und kritischen Anhänger der PDS, die jetzt schon heimatlos gewordenen und künftig aus der SPD und den Grünen getriebenen Linken, vielleicht doch ein neues Projekt schmieden? Dann könnte die Frage nach den besten Lösungskompetenzen für die deutschen Probleme, dann könnte der zwanzigste Jahrestag der Deutschen Einheit doch noch richtig spannend werden.

WOLFGANG TEMPLIN