Innere Kreaturen ringen miteinander

Stimme Drohungen wie aus einem Geisterbahn-Lautsprecher: Zur Eröffnung des CTM Festivals zeigt die Kanadierin Tanya Tagaq Gillis eindrucksvoll ihre Sangeskunst im HAU1

Traditioneller Kehlkopfgesang und elektronische Einflüsse Foto: Roland Owsnitzki

von Sophie Jung

Tanya Tagaq Gillis spricht in einfachen Worten. Barfuß steht sie auf der Bühne des HAU1, ein schwarzes Kleid, pur. Als Inuit vertritt sie ein hier in Berlin kaum bekanntes Volk. Anscheinend überwältigt von der Aufmerksamkeit, die ihr auf der großen Bühne zukommt, hebt sie schüchtern ihre hohe Stimme an und spricht gleichsam mit einer ruhigen – man könnte sagen: indigenen – Weisheit: „Wir improvisieren jetzt und dabei werden Momente entstehen, die nie mehr wieder auftauchen werden.“ Das sagt sie mit kokettierender Süße, mit einer trügerischen Süße, denn die Gesangskünstlerin wird sich im Laufe des Konzerts in viele Wesen spalten. Sie wird dunkle Tiefen aus ihrer Kehle holen, menschenferne Rhythmusgeräusche, gebärdiges Brüllen und nur noch manchmal das zarte Stimmchen aus den ersten Minuten ihres Auftritts im Hintergrund auftönen lassen.

Tanya Tagaq Gillis kommt aus Kanada, und sie bringt eine Musik nach Berlin, die nur in der Neuen Welt entstehen kann: Den traditionellen Kehlkopfgesang der Inuit aus dem Norden der Provinz Quebec verbindet sie mit Schlagzeug und Geige, die ihrerseits durch elektronische Effekte verfremdet in einer Cloud zwischen Rock und Techno schweben. Als „postmodern“ labelten die Kuratoren des Club Transmediale die Musik der Sängerin. Sie hat am vergangenen Samstag das Auftaktkonzert des Festivals im HAU1 gegeben. Fast Vergessenes tritt bei Tanya Tagaq Gillis mit einer gängigen westlichen Popkultur zusammen, und sie schafft damit eine neue musikalische Erzählung.

Nahezu unbekannt ist hier der Katajjaq, der Kehlgesang der Inuit-Völker aus dem arktischen Norden Quebecs, der eine ungewöhnliche Form der Darbietung beinhaltet. Frauen, nicht Männer, singen im Duett und stehen sich dabei so nah gegenüber, dass sie sich an der Taille oder an den Armen fassen und gegenseitig als zusätzlichen Resonanzkörper nutzen können. Tanya Tagaq Gillis, die sich trotz schüchterner Koketterie auf der Bühne vor politischen Äußerungen nicht scheut, verweist zu Beginn auf die koloniale Geschichte ihres Volkes: In den Dreißigern wurde diese Darbietungsform von christlichen Missionaren als zu sexuell empfunden und verboten.Klangfarbe und Reihenfolge der verwendeten Laute im Katajjaq sind der Natur nachempfunden, in einer fantasierten Lautsprache beschreiben sie Geräusche von Flüssen, Wind, Bären, Zugvögeln oder Insekten. Schnelles abwechselndes Atmen schafft ein rhythmisches Muster. Das klingt tierisch, tief und gebärdig, ist aber im Original ein Spiel zwischen den Duettpartnerinnen. Tanya Tagaq Gillis führt dieses Spiel im Wechsel mit Geiger und Schlagzeuger fort und mit sich selbst. Ihre Stimme vermag das Volumen eines Chors anzunehmen, aus dem spitze Laute wie das Kreischen eines Vogels hervordringen können.

Sie holt dunkle Tiefen aus ihrer Kehle, menschenferne Rhythmusgeräusche

Ekstatisch dreht sich die Sängerin mit ihren beiden Instrumentalisten in einer Soundspirale hoch, die aus einer anfänglich unheilvollen Ruhe, wie sie in den Swing-Untermalungen von David-Lynch-Filmen auftaucht, immer mehr zu einem wilden Rock-Gemisch zuspitzt. Sampler und minimale Drumbass-Einschübe unterlegen das dramatische Spiel technoid. Und wie die zeitgenössische Technik immer wieder in den instrumentalen Sound gerät, spaltet sich auch die Stimme der Tanya Tagaq Gillis’ von der Nachahmung natürlicher Geräusche ab und nimmt den im Laufe des Konzerts zunehmend zivilisatorischen Sound in ihren Gesang auf – ein jokerartiges Lachen, verzerrte dunkle Drohungen wie aus einem Geisterbahn-Lautsprecher.

Auf der Bühne wandelt sich die Sängerin zu einem schizophrenen Wesen, dessen viele innere Kreaturen miteinander zu ringen scheinen. Eine priesterliche Handgeste wandelt sie zu einer Faust, ein gerades Aufbäumen des Brustkorbs endet in Krümmungen und Zucken. Wie bei einem Exorzismus scheint sie die bösen Geister aus ihrem Inneren herauspressen zu wollen und endet schließlich mit einer Geburtsszene: Auf allen vieren gebiert sie ein tiefes moschusochsenartiges Röhren.