Weißrussland

Die EU will in Weißrussland Internierungslager für Migranten ­bauen lassen. Schon jetzt stecken Tausende an der EU-Grenze fest

Polnisches Roulette

Flucht Hunderte von Geflüchteten versuchen täglich in Polen Asyl zu beantragen. Nur ein bis zwei Familien kommen durch. Die anderen harren zum Teil in Bahnhofshallen aus

„Jetzt mieten wir alle paar Tage eine Bleibe, um die Kinder ausschlafen zu lassen“

Ruslan aus Tschetschenien

BREST taz | Ruslan sitzt im Bahnhofscafé im weißrussischen Brest an der polnischen Grenze und sieht müde aus. Er erzählt, dass er die Nacht auf einer Sitzbank in der Wartehalle verbracht hat. Seine dreijährige Tochter hat auf seinem Schoß geschlafen, seine Frau und zwei ältere Söhne auf einer Nebenbank.

So wie sie hausen im Bahnhofsgebäude seit Monaten Hunderte Flüchtlinge aus dem Kaukasus. Ruslan ist zusammen mit seiner Familie im Oktober aus Tschetschenien über Moskau nach Brest gekommen. Seitdem besteigen sie jeden Morgen um 8.04 Uhr einen Zug nach Terespol, in der Hoffnung, in Polen einen Antrag auf Asyl zu stellen. Jedes Mal werden sie von den polnischen Grenzern abgewiesen und kehren mit dem Gegenzug am frühen Nachmittag nach Brest zurück.

„Am Anfang haben wir uns mit einer anderen Familie eine Wohnung gemietet. So konnten wir wenigstens nach den Strapazen des Tages in Ruhe übernachten“, erzählt der 25-Jährige. „Aber im Dezember war das Geld alle. Wir haben nicht damit gerechnet, in Weißrussland so lange stecken zu bleiben. So hatten wir keine andere Wahl, als zum Bahnhof zu ziehen. Jetzt mieten wir uns alle paar Tage eine Bleibe, um die Kinder ausschlafen zu lassen und uns ordentlich zu waschen.“

Der Transit über Weißrussland nach Polen ist unter Flüchtlingen, hauptsächlich aus Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan, seit Jahren hoch im Kurs. Sie versuchen über das nächstliegende EU-Land nach Westeuropa zu gelangen. Von hundert Angereisten haben in der polnischen Grenzstadt Terespol pro Tag nur eine bis zwei Familien Glück. Deren Asylantrag wird angenommen. Der Rest muss nach Weißrussland zurück – zum Brester Bahnhof, der ihnen seit Monaten das Zuhause ersetzt.

In den letzten Monaten hat der Flüchtlingsstrom rapide zugenommen. Die Deutsche Welle spricht von 78.000 Menschen, die 2016 von polnischen Grenzbeamten zurückgewiesen wurden, im Vorjahr seien es nur knapp 19.000 gewesen, die meisten davon Tschetschenen. Bis Oktober 2016 sei es lediglich 6.573 Tschetschenen gelungen, im polnischen Terespol einen Asylantrag zu stellen. Etwa 90 Prozent der Einreisenden würden zurückgewiesen.

Der weißrussische Menschenrechtsaktivist Roman Kisl­jak kennt viele, die über 50 gescheiterte Ausreiseversuche hinter sich haben. „Aus eigenener Erfahrung weiß ich, dass sich an manchen Tagen bis zu 700 potenzielle Asylbewerber in die EU aufmachen. Bis auf eine, höchstens zwei Familien, kehren dann alle zurück.“

Über die Beweggründe, seine Heimat zu verlassen, spricht Ruslan, der anonym bleiben will, nicht gern. „Die meisten sind auf der Flucht vor dem Kadyrow-Clan“, sagt er. „Wenn du nicht zu dem Clan gehörst, kannst du in Tschetschenien nicht einmal eine anständige Arbeit finden. Gelderpressungen, Einschüchterungen und Überfälle gehören zum Alltag. Du kannst niemals sicher sein, dass es eines Tages nicht auch dich und deine Familie trifft.“

Ein anderer Tschetschene, der sich Achmad nennt, gibt eine weitere Erklärung dafür an, dass die Tschetschenen sich gerade jetzt en masse Richtung Westeuropa aufgemacht haben. „In Tschetschenien macht das Gerücht die Runde, dass wegen der hohen Zahl der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Irak die EU die Grenze für weitere Migranten dicht machen will“, sagt er. Er erinnert sich, wie die Tschetschenen im vorigen Sommer in der Nähe des Lkw-Grenzübergangs bei Brest ein Protestcamp aufgeschlagen haben. Die Aktion hatte hohe Wellen geschlagen. Daraufhin hat Polen eine Zeit lang eine viel größere Zahl an Asylantragstellern aufgenommen. Später sind sie zum alten Zustand zurückgekehrt.

Die genaue Zahl der Flüchtlinge, die sich an der weißrussisch-polnischen Grenze aufhalten, kennt keiner. Nach Einschätzung von Roman Kisljak sind es etwa 1.500 Personen. Dank der Freiwilligen der zivilen Organisation Human Constanta und der hilfsbereiten Einwohner von Brest sind viele der Flüchtlinge, insbesondere die mit Kleinkindern, in privaten Wohnungen oder anderen Stadträumlichkeiten untergebracht worden. In Notfällen verhandeln die Aktivisten mit den städtischen Krankenhäusern über medizinische Hilfe.

Die Flüchtlinge erzählen, dass die Einwohner von Brest ihnen gegenüber größtenteils wohlwollend eingestellt sind. Abends bringen einige von ihnen warme Decken und Lebensmittel in die Bahnhofshallen. „Es gibt aber auch welche, die einfach verdienen wollen. Mir hat schon jemand eine Übernachtung für 80 Euro angeboten. Und manche gucken auch schief, wenn man sie um Erlaubnis bittet, ein Telefon zu laden oder sich auf der Toilette kostenlos das Gesicht zu waschen“, erzählt Achmad.

In der Human Constanta glaubt man, dass in dieser Situation die Errichtung eines provisorischen Flüchtlingsheims eine Lösung wäre. „Mit der Kälte haben sich die Alltagsprobleme der Flüchtlinge zugespitzt“, sagt der Aktivist Alexei Kosljuk. „Viele benötigen Winterkleidung und richtige Ernährung. Es gibt Bedarf an Hilfe von Psychologen und Juristen. Die Kinder haben keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen.“ Aleh Suprunjuk

Aus dem Russischen von Irina Serdyuk