Harvard-Wissenschaftler über Demokratie: „Das System kämpft ums Überleben“

Die Menschen wenden sich von der Demokratie ab, sagt Harvard-Politikwissenschaftler Yascha Mounk. Es handele sich um eine globale Krise. Aber: Er hat Hoffnung.

Das Kapitol in Washington mit davorhängenden USA-Flaggen

Die Vereinigten Staaten: immer (noch) Symbol der Demokratie? Foto: ap

taz.am wochenende: Herr Mounk, Sie analysieren den Zustand der westlichen Demokratien anhand von Zahlen. Wie steht es um das System, in dem wir leben?

Yascha Mounk: Die Zahlen zeigen, dass die Leute nicht mehr nur gegenüber einzelnen Regierungen kritisch sind, sondern dass sie sich langsam vom System selbst abwenden. Der Anteil der Bürger, denen es wichtig ist, in einer Demokratie zu leben, nimmt ab – in Deutschland, in den USA und in vielen anderen Ländern. Der Anteil der Bürger, die für Alternativen zur Demokratie offen sind, nimmt dagegen zu. Wenn man das zusammennimmt, erkennt man, dass es eine globale Krise der liberalen Demokratie gibt. Unser System kämpft ums Überleben.

Sie haben eine Art Warnsystem für die Destabilisierung von Demokratien entwickelt. Was haben Sie dabei herausgefunden?

Das Bild ist leider relativ klar und frappierend. In den USA ist es Menschen, die in den 1930er oder 1940er Jahren geboren sind, zu über zwei Dritteln extrem wichtig, in einer Demokratie zu leben. Unter Menschen, die seit 1980 geboren worden sind, ist es weniger als einem Drittel ähnlich wichtig. Die Zustimmung zu krassen Alternativen zur Demokratie, wie zum Beispiel einer Militärregierung, hat sich ebenso verändert: 1995 fand einer von 16 Amerikanern, dass eine Militärregierung ein gutes System sei. Mittlerweile ist es einer von sechs.

Wie sieht das in Europa aus?

Ganz ähnlich. In Deutschland hat sich zum Beispiel die Zahl der Menschen, die sagt, dass die Demokratie ein schlechtes oder sehr schlechtes System ist, über die letzten 20 Jahre stark vergrößert.

Und woran liegt das?

Das Aufkommen des Populismus ist ein globales Phänomen, dementsprechend müssen die Ursachen für die Krise auch global sein. In Deutschland heißt es, die beste Erklärung für die Erfolge der AfD sei, dass Angela Merkel so zentristisch regiere und deshalb die rechten Milieus ihrer Partei nicht mehr binden könne. Gleichzeitig sagen die Leute in den USA genau das Gegenteil: Der Grund für die Krise der liberalen Demokratie soll dort angeblich sein, dass die Parteien so stark auseinanderklaffen. Das scheint mir nicht überzeugend. Es kann nicht sein, dass einerseits in Deutschland die Rechtspopulisten Erfolge feiern, weil sich die Parteien zu wenig unterscheiden, andererseits in den USA die Rechtspopulisten aufkommen, weil die Parteien genau das tun.

Welche Gründe sehen Sie?

Es gibt drei große Gründe. Der erste hat mit Identität zu tun. Insbesondere in West- und Osteuropa, in Australien und in Teilen von Asien war Demokratie immer monoethnisch und monokulturell begründet. Es ist also wahrscheinlich kein Zufall, dass in großen Teilen Europas – Deutschland eingeschlossen – die Demokratie wirklich stabil wurde, als das Land wegen des Zweiten Weltkriegs so homogen war wie nie zuvor. Diese Länder haben in den vergangenen 50, 60 Jahren viel Einwanderung erfahren. Sie müssen langsam ihre Identität umstellen und verstehen, dass man Demokratie auch multiethnisch begründen kann – dass man Menschen, die aus einem anderen Teil der Welt stammen, eine andere Hautfarbe, eine andere Religion haben, als echte Mitbürger ansehen kann. Das ist ein historisch einzigartiges Experiment. Leider wissen wir nicht, ob es funktionieren kann und wird.

Aber es gibt multiethnische Demokratien, die funktionieren. Indonesien ist zum Beispiel schon relativ lange stabil.

So stabil ist momentan leider auch Indonesien nicht, die religiösen Spannungen dort nehmen stark zu. Die besten Beispiele für Länder, die sich immer multiethnisch begründet haben und in denen es eben nicht die Idee gab, dieselben Vorfahren haben zu müssen, sind immer noch die USA und Kanada. Man sieht momentan aber auch dort, wie schwierig sich das gestaltet. Das Phänomen Trump macht klar, wie stark der Widerstand gegen echte Gleichheit ist.

Die kanadische Regierung wird als multiethnisch gefeiert. Sieht die Realität im Land anders aus?

Obamas Regierung wurde vor drei oder vier Jahren auch als multiethnisch gefeiert. Es gab zwar die Tea Party und dergleichen, aber die meisten Leute haben es nicht für möglich gehalten, dass jemand, der so extrem wie Trump ist, zum Prä­sidenten gewählt werden würde. In England hätte man vor drei oder vier Jahren gesagt, es gebe keine große populistische Energie, und doch hat das Land jetzt für den Brexit gestimmt. ­Schweden sah vor vier oder fünf Jahren noch relativ stabil aus – mittlerweile führen die Schwedendemokraten, die aus einer neo­nazistischen Bewegung stammen, zum Teil in den Wahlumfragen.

Ist das nicht alles etwas alarmistisch?

Ich halte die Stimmung in Deutschland für naiv. Es ist verlockend, zu glauben, dass hierzulande alles besser geht als anderswo – man habe ja aus der Vergangenheit gelernt und so weiter. Aber die Engländer und Amerikaner hielten bis vor Kurzem auch für unmöglich, was jetzt bei ihnen passiert.

Welche Szenarien gibt es?

Zum Beispiel, dass die AfD nicht weiter an Zustimmung gewinnen kann und bei der Wahl 2021 wieder aus dem Parlament fliegt. Vielleicht zerlegt sie sich. Aber wenn bis zur nächsten Bundestagswahl oder bis 2021 die Anzahl an Flüchtlingen wieder stark steigt oder der Euro zusammenbricht oder die Bundesregierung Griechenland mit einem weiteren Bailout retten muss oder es einen weiteren größeren Terroranschlag in Deutschland gibt oder die Wirtschaft nicht so gut läuft wie momentan – wenn ein paar dieser Faktoren zusammenkommen, dann kann die AfD in Deutschland irgendwann durchaus bei 25 oder 30 Prozent landen.

Was ist die zweite Ursache für die Krise der Demokratie?

1982 in München geboren, wuchs in Freiburg, Kassel, Maulbronn, Laupheim und Karlsruhe auf und verließ Deutschland für ein Studium in Cambridge. Mittlerweile lebt er in New York und unterrichtet politische Theorie an der Harvard University.

In der gesamten Geschichte der demokratischen Stabilität ist der Lebensstandard der durchschnittlichen Bürger immer sehr schnell gewachsen. Das ist etwa in den USA sehr klar: Von 1935 bis 1960 hat sich der Lebensstandard durchschnittlicher Bürger verdoppelt. Von 1960 bis 1985 hat er sich noch einmal verdoppelt. Seit 1985 ist er stagniert. Und das verändert die Sicht, die Bürger auf die Politik haben. Sie haben der Regierung vielleicht nie grenzenlos vertraut, aber gesagt: „Ich bin doppelt so reich wie mein Vater, mein Sohn wird doppelt so reich sein wie ich, also lass ich die da oben mal machen.“ Mittlerweile sagen die Leute: „Ich habe mein ganzes Leben hart gearbeitet und kann nichts wirklich herzeigen. Meinem Kind wird es vielleicht noch schlechter gehen als mir. Warum soll ich der Politik vertrauen? Warum soll ich Experimente ablehnen?“

Demokratie hängt von wachsendem Wohlstand ab?

Die große Frage unserer Zeit ist: Reicht es für eine Demokratie, dass eine Gesellschaft relativ wohlhabend ist, oder braucht es für die Stabilität einer Demokratie ein stetes Anwachsen der Lebensqualität? Ich befürchte, dass Letzteres durchaus möglich ist.

Ist also der Kapitalismus das Problem?

Nein. Alle Studien zeigen, dass Leute toleranter werden, wenn sie sich wirtschaftlich sicher fühlen. Wenn sie dagegen Angst haben, dass es ihnen in Zukunft wirtschaftlich schlechter gehen wird, fragen sie eher: „Warum geht es dem da drüben besser als mir?“ Es geht also darum, wie man das Geld verteilt. Viele Wirtschaftswissenschaftler gehen davon aus, dass in den nächsten Jahren ungefähr 50 Prozent der Arbeitsplätze aufgrund von technologischen Entwicklungen verlorengehen könnten. Wie kann man unter diesen neuen Umständen genug breitgefächerten Wohlstand stiften, um die Demokratie aufrechtzuerhalten? Das ist eine der großen Herausforderungen der nächsten 30, 40 Jahre.

Ja, wie denn?

Ich orientiere mich am Programm der frühen Sozialdemokratie, das in dieser Hinsicht visionär war. Es versprach der Masse der Bevölkerung ein wirklich besseres Leben. Es versprach, die Wirtschaft von Grund auf umzubauen. Aber gleichzeitig sagte man, die parlamentarische Demokratie ist für uns in Ordnung, wir steuern diese großen Veränderungen durch parlamentarische Reformen und nicht etwa durch eine Revolution an. Eine ähnliche Vision – wirtschaftlich fortschrittlich, institutionell konservativ – muss die Linke heute auch entwickeln. Aber eine richtig gute Antwort darauf, wie das konkret aussehen mag, gibt es momentan leider noch nicht.

Noch mal zur Ursachenforschung: Was ist der dritte Grund für die Krise?

Das dritte Problem hat mit Geografie zu tun. Früher war das Gefälle zwischen städtischen und ländlichen Gebieten kleiner. Heute klaffen diese Gebiete wirtschaftlich wie kulturell stark auseinander. Die Zustimmung zu populistischen Kandidaten und Positionen ist in ländlichen Gebieten viel stärker. Das sieht man in Deutschland mit der AfD, in Österreich bei der Bundespräsidentenwahl, sehr stark bei Donald Trump.

Die Entwicklung zur multiethnischen Gesellschaft, der Mangel an Wachstum und ein Stadt-Land-Gefälle – so lässt sich die Krise der Demokratie erklären?

Dazu kommen die sozialen Medien als Katalysator, der diese drei Gründe beschleunigt. Leute in ländlichen Gebieten etwa können sich heute viel einfacher politisch organisieren. Die Weltsicht der Medien, die immer aus größeren Städten kommen, kann umgangen werden, indem Propaganda oder Halbwahrheiten verbreitet werden.

Während des Arabischen Frühlings haben die sozialen Medien die Demokratie unterstützt. Gibt es jetzt eine Art Rückschlag?

Soziale Medien machen Rebellion einfacher. Diese Rebellion kann sich gegen sehr autoritäre Regierungen wenden wie im Arabischen Frühling, aber eben auch gegen ein System, das demokratisch legitimiert ist. Sie machen außerdem Ungleichheit stark präsent und untergraben bis zu einem bestimmten Punkt die Suche nach Gemeinsamkeit in der Gesellschaft.

Ohne Gemeinsamkeit keine Demokratie?

Richtig. Es gibt mittlerweile in den USA und Kanada, aber auch in Europa, eine Vision von Politik, die Leute auseinanderdividiert. Das sieht man durchaus auch in Teilen der Linken. Zum Beispiel heißt es dann, dass cultural appropriation – auf Deutsch etwa „kulturelle Aneignung“ – etwas Schlechtes sei. Wenn man sich mit der Kultur von jemandem auseinandersetzt oder auch Elemente daraus entleiht, wenn man aus deren Küche kocht oder deren Mode kopiert, dann erkennt man darin nicht, dass wir einen interkulturellen Dialog in unserer Gesellschaft haben. Sondern man sieht etwas Negatives, weil ich mir dadurch etwas aneigne, was mir nicht gehört. Genauso kann man in größeren politischen Fragen die Unterschiede zwischen Bürgern zwar positiv bewerten, aber gleichzeitig versuchen, sie zusammenzuführen – oder man kann sie auseinanderdividieren und als separate Wahlgruppen hofieren. Die Gefahr ist, dass sich die Linke zum Teil auch als Reaktion auf den Rassismus und die Xenophobie immer mehr auf dieses Auseinanderdividieren einlassen wird.

Wie lässt sich das verhindern?

Das Ideal ist Integration. Die erste Aufgabe des Staates ist es, Diskriminierung in der Gesellschaft zu verhindern und Diskriminierung vonseiten des Staates abzuschaffen. Aber die zweite, ebenso wichtige Aufgabe ist, Räume zu schaffen, in denen Menschen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen miteinander lernen, ihre Berufe ausüben und streiten, in denen sie zu echten Mitbürgern werden. Ein Beispiel in Deutschland ist der konfessionelle Religionsunterricht, der diskriminierend ist, weil Muslime kaum Zugang dazu haben. Besser wäre ein gemeinsamer Religionskundeunterricht. Ähnliches ließe sich beim Wohnraum machen – zum Beispiel, indem man einen bestimmten Anteil neuer Häuser in wohlhabenden Stadtteilen für Leute mit niedrigem Einkommen bereitstellt.

Europa hat spätestens seit den achtziger Jahren einen neoliberalen Weg eingeschlagen. Und niemand traut sich, auch nur ansatzweise umzusteuern.

Ja, das ist ein Problem. Umverteilung ist heute nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch der Systemstabilität. Wenn wir das jetzt nicht machen, fliegt uns die ­Demokratie vielleicht um die Ohren. Wir müssen realisieren, wie gut wir es in dieser Welt haben, trotz aller Ungerechtigkeiten und Probleme. Unsere Aufgabe ist es, das System zu reformieren – aber den Leuten auch das Gute an der Demokratie zu vermitteln und für sie zu kämpfen.

Sind Sie zuversichtlich, den Kampf zu gewinnen?

Es wird schwierig. Aber es gibt zwei Chancen, die aus der aktuellen Situation entstehen: Die eine ist, dass wir wieder Mut entwickeln, fortschrittliche Politik zu machen und das Wirtschaftssystem zu überdenken. Und die zweite Chance ist, dass Menschen, die die Demokratie für selbstverständlich halten und sie deshalb nicht wirklich wertschätzten, feststellen, wie wichtig ihnen dieses System und die Freiheiten sind, die es ihnen gibt. Das könnte wie eine Art Impfung wirken. Jüngere Leute könnten eines Tages sagen: Ich habe zwar nie gegen den Faschismus oder den Kommunismus kämpfen müssen, aber als die Rechtspopulisten kurz vor der Macht standen, habe ich verstanden, wie wichtig mir die Demokratie ist. Ich engagiere mich jetzt dafür, dass sie nicht noch einmal in Gefahr gerät. Insofern habe ich durchaus Hoffnung, dass wir langfristig gegen diese Populisten gewinnen, dass wir in 25 oder 50 Jahren zurückblicken und zu einer Generation von Helden geworden sind, die das System gerettet haben. Es kann aber auch das Gegenteil passieren – dass wir zu tragischen Helden werden, die vergeblich für das Unmögliche gekämpft haben. Es kann sein, dass wir, trotz all unserer Bemühungen, am Anfang des Endes der Ära der liberalen Demokratie stehen.

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