Kein Zögern, kein Zagen

Kunst Breit gefächertes Spektrum der künstlerischen Avantgarde: Die Kunstsammlungen Chemnitz zeigen zum 100. Jubiläum der Oktoberrevolution 400 Werke von über 110 Künstlern

Natalja Gontscharowa, Ruderer, 1912, Öl auf Leinwand Foto: Kunstsammlungen Chemnitz

VON Annegret Erhard

Mit exemplarischen Kunstwerken aus den jeweils zehn Jahren vor und nach der Revolte von 1917 wird eine Radikalität deutlich, die sich sowohl in der stürmischen Entwicklung der ästhetischen wie der politischen Ausdrucksmittel zeigt, vor allem aber in deren nahezu unbekümmerten Frische, vorgetragen mit unaufhaltsam drängendem Selbstbewusstsein. Kein Zögern, kein Zagen, kein Deuteln. Kasimir „Apostel“ Malewitsch, Natalja Gontscharowa und ihr Lebensgefährte Michail Larionow, die großbürgerlichen Revoluzzer-Brüder Wladimir und Dawid Burljuk waren Futuristen, man bezeichnete sich als „Budetljane“, als Zukünftler. Allen gemeinsam war die Ablehnung des Akademismus. Die Überführung des Figurativen in die Abstraktion – Form, Farbe und Dynamik – bestimmten ihr international wirksames Programm. In nur wenigen Jahren durchlief es eine vom Spätimpressionismus ausgehende rasante Entwicklung, die zu Beginn der dreißiger Jahre schließlich kümmerlich im Sowjetrealismus erstarrte.

Sammlung Tsarenkov

Die ausgestellten Arbeiten sind sämtlich Bestandteil der Sammlung von Vladimir Tsarenkov. Er war 1980 aus seiner russischen Heimat, wo er als Lehrer tätig war, nach Paris ausgewandert, begann dort zu sammeln und zu handeln und lebt seit Jahren schon in London. 1980 war die in den Zwischenkriegsjahren vorzüglich funktionierende kultur- und gesellschaftspolitische Achse Paris–Moskau mit Zwischenstopp Berlin freilich alles andere als intakt. Ideal jedoch für die Spurensuche des Muttersprachlers unter den in die Jahre gekommenen Emigranten. In einem Interview berichtete der Sammler von der Fülle des Materials seinerzeit und von heute unfassbar niedrigen Preisen. Geschichte. Wie die Revolution.

Eine derart kundig und zeitig zusammengetragene Sammlung birgt neben Ikonischem (etliche der Kunstwerke waren schon andernorts als Leihgaben zu sehen) eine Reihe von Überraschungen. Dazu gehören die „Architektonen“ und „Planiten“ von Kasimir Malewitsch, horizontal konzipierte Gipsmodelle als schwebende Objekte oder Schiffe für den Weltraum-Gebrauch respektive vertikal aufgetürmt als futuristische Hochhausutopien („Wir betrachten die Front ästhetisierender malerischer Darstellungen als erledigt …“). Das war 1920. Das schwarze Quadrat hatte er bereits 1915 in zahlreichen Skizzen verwirbelt und variiert.

David Jakerson komponiert später suprematistisch und hochästhetisch auf Basis schwarzer geometrischer Grundelemente. Ebenso wie Iwan Kljun, der mit radikal reduziertem formalistischem Repertoire später, nachdem der eiserne Vorhang sich geöffnet hatte, eine Reihe von Fälschern inspirierte, was wiederum dem Handel mit russischer konstruktivistischer Kunst nicht besonders guttat. Am schönsten jedoch ist El Lissitzkys federleichte „Erzählung von zwei Quadraten in sechs Spielen. Hier ist das Ende weiter“ von 1922, eine plastisch aufgebaute Szene mit großem, aufgebocktem rotem Quadrat über dem ein kleines schwarzes Quadrat gleichsam in sicherem Abstand schwebt.

Man gründete Zeitschriften („Da wir in dieser Zeitschrift alles auf null bringen wollen, haben wir uns entschieden, sie NULL zu nennen. Wir selbst werden dann über die Null hinausgehen“), die meist nach wenigen Ausgaben wieder eingestellt wurden. Auf den Fotos jener Jahre kaspern die umsturzberauschten und scheinbar durch nichts aufzuhaltenden Architekten, Hochschullehrer und Designer im Garten des Anwesens der Familie Burljuk. Lebenslust und eine Riesenportion Sendungsbewusstsein, gepaart mit möglichst kühnem Lebensentwurf, zeichnete die Erfolgreichen aus.

Kritik war egal, Ironie die Devise. Hatte ein Kritiker den Eindruck, ihre Kunst sei von einem Eselsschwanz gemalt, gründeten sie umgehend eine Gruppe (Gruppenbildung ist neben dem unübersehbaren Rückgriff auf Elemente der Volkskunst und der Ikonenmalerei ein Hauptmerkmal der russischen Avantgarde) mit dem Namen „Eselsschwanz“. Es erschienen Manifeste zuhauf, ultramodern an de Stijl und Bauhaus angelehnte Plakate informierten und forderten (herrisch bisweilen, zwingend immer).

Die Überführung des Figurativen in die Abstraktion bestimmte ihr Programm

Man beschäftigte sich parallel mit Bühnenbild und Dichtkunst, mit Textilkunst und Illustration. Dazu gehörte naturgemäß das Porzellan der Revolutionszeit, ein ganz spezielles Betätigungsfeld, das mit 222 Objekten in Chemnitz einen in Deutschland bislang nie dagewesenen Überblick bietet. Nach der Revolution wurden die zahlreich in der ehemaligen zaristischen Porzellanmanufaktur gelagerten Weißporzellane in Agitpropmanier bemalt.

Traditionelle Motivdetails und (nach-)revolutionäre Parolen wurden mit den Insignien der neuen Zeit verwoben. Elegant stilisierte Hammer-und-Sichel-Symbole wurden mit kubofuturistischen Elementen vereint, man thematisierte die zukunftsverherrlichende Industrialisierung ebenso wie die Rote Armee, Lenin und die Proletarier aller Länder; etliche Dekore verwiesen aber auch auf die prekäre Situation der darbenden Bevölkerung. Fast alle tonangebenden Künstler lieferten Entwürfe, die von den virtuosen Manufakturmalern ausgeführt wurden.

Die rein suprematistisch dekorierten Teller, Tassen und Schalen waren, anders als die Agitationsporzellane, der Versuch, eine Art räumlichen Suprematismus zu gestalten, der die irritierende Spannung zwischen Form und Dekor zur Maxime erhob. Eine allgemeine Rezeption jenseits einer rein künstlerischen Bewertung gelang jedoch nicht. Ohnehin waren die Stücke, oft Unikate, weit mehr für die Ausfuhr und zur Devisenbeschaffung gedacht. Ab den dreißiger Jahren verteufelt, fanden sie ihren Weg ins Ursprungsland erst wieder ab den neunziger Jahren.

Bis 12. März, Kunstsammlungen Chemnitz, Katalog (Sandstein Verlag) 30 Euro