Südostasien gibt es nicht

Viele unterschiedliche ästhetische Ansätze, selbstbewusstes Agieren, aber kein gemeinsamer Nenner: Die große Ausstellung „Politics Of Fun“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt zeigt Arbeiten junger Künstler aus Indonesien, Thailand und Singapur

Neben dem Mut zur Lücke ist es vor allem diese Vielstimmigkeit, die die Ausstellung vor dem Repräsentationsanspruch rettet

VON SUSANNE MESSMER

Ein großer, dunkler Raum voller Monitore. Dazwischen, auf den Tischen: hunderte von großen und kleinen Büchern, Eintrittskarten, Broschüren, Stadtplänen, Notizen, Skizzen, manche bezeichnend, manche unbedeutend. Tan Kai Syng, eine junge, manische Sammlerin und Videokünstlerin aus Singapur, lädt in ihrer Arbeit über Japan im Zweiten Weltkrieg zum Blättern und Anklicken ein: das Haptische einerseits, Filmaufnahmen von Gesprächen mit älteren Verwandten über die japanische Besetzung Singapurs, Demonstrationen linker und rechter Gruppen am kontrovers diskutierten Yasukuni Schrein, Tourismus in Hiroschima, Propagandafilme, Schrift, weißes Rauschen andererseits. Es geht um Erinnerung, um die Unordnung und die Widersprüche subjektiver Annäherung, um Blockaden, Selektionen, Amnesien – all die Argumente, die gegen große Erzählungen sprechen, gegen die offizielle Geschichtsschreibung etwa, wie sie in Singapur, aber auch in Japan noch immer rigide kontrolliert wird.

Ein paar Schritte weiter ein nächster dunkler Raum. Auf einer großen Leinwand kann man der thailändischen Künstlerin Araya Radjarmrearnsook dabei folgen, wie sie Leichen in Wannen und unter weißen Leinentüchern Gedichte vorliest und ihnen Lieder vorsingt. Auf einer zweiten Leinwand erteilt sie ihnen Unterricht in Todesphilosophie. „Dead“ steht an der grauen Schiefertafel – die Künstlerin schreitet sachte auf und ab, stellt freundlich und leise philosophische Fragen, nimmt imaginäre Antworten auf und wiederholt sie sanft. Es sind Leichen von Menschen, die anonym starben, die niemanden hinterlassen, die ihnen das letzte Geleit geben könnten – Araya Radjarmrearnsook, Jahrgang 1957, scheint den Respekt vor den Älteren, der im angeblich sonnigsten und wonnigsten Land der Welt noch immer bleischweres Gesetz ist, atemberaubend genau zu nehmen. Wörtlicher, als er gemeint ist jedenfalls.

Es sind diese auseinander klaffenden, diese einfach auf keinen gemeinsamen Nenner herunterzubrechenden Ansätze, die „Politics Of Fun“ ausmacht, die große Schau im Rahmen des Südostasien-Projekts „Räume und Schatten“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt in diesem Herbst. Und neben dem Mut zur Lücke und der Reduktion, der Konzentration auf drei der neun Länder Südostasiens ist es vor allem diese Vielstimmigkeit, die sie davor rettet, als repräsentative Ausstellung in die Geschichtsbücher einzugehen. Kunst aus einer Region über einen Kamm zu scheren, deren Grenzverläufe eine militärische Konstruktion des Westens sind: Das ist ihr gelungen. Man sieht genau, was für Unterschiede es macht, ob ein Künstler in Singapur, in Indonesien oder in Thailand geboren ist oder arbeitet.

Für seine Arbeit „Inside Outside“ hat Charles Lim aus Singapur Bojen fotografiert, Grenzmarkierungen in angeblich freien Gewässern rings um seine Inselstadt. Jede Boje nahm er aus zwei Perspektiven auf: mit Blick nach drinnen, auf Singapur, und mit Blick nach draußen, aufs offene Meer. Was Grenzen ausmacht: Das ist die Frage, die Charles Lim in allen seinen Arbeiten umtreibt. Während viele Medientheoretiker in den Neuzigerjahren das Internet für einen endlosen Raum ohne Grenzen hielten, für körperlos, frei und demokratisch, begann Charles Lim mit seinem Projekt tsunami.net zu untersuchen, wie und von wem das Netz gemacht wird, wo es sich befindet, wer seine Regeln erfindet und wer es kontrolliert. Weil alle meinen, jede Information sei nur einen Mausklick entfernt, ging er auf der letzten documenta einen Monat lang zu Fuß von Kassel an den Ort, an dem sich der Server der documenta befand.

Charles Lims Lust, den unantastbaren Dingen auf den Leib zu rücken, ist riesig – fast so unersättlich wie die von Tan Kai Syng, nicht erfasste Geschichten zu sammeln und fassbar zu machen. Man kann dem sofort nachfühlen, wenn man nur einmal durch die Heimatstadt der beiden gefahren ist: Singapur, die klimatisierte, komfortable und sichere Stadt, in der selbst die Pflege des kulturellen Erbes verordnet ist, in der sich alles um Arbeit und Wohlstand dreht, deren Bürger sich über die vielen Verbotsschilder lustig machen, sie aber dennoch befolgen, in der alles so reibungslos abzulaufen und immer liberaler zu werden scheint. Hier will man einfach wissen, wer sie gemacht hat, diese glitzernden Oberflächen, und was sie gekostet haben – und dass zum Beispiel Zensur und Selbstzensur noch immer an der Tagesordnung ist.

Wenn man den Blick auf Charles Lims Bojen und auf das Meer dahinter nur ein Stück verlängern könnte, dann würde man fast bis nach Indonesien kommen. Räumlich zum Anfassen nah ist dieses Land Lichtjahre entfernt vom hoch entwickelten Singapur, wo die Künstler vor allem damit beschäftigt sind, am schönen Schein zu kratzen. In Indonesien dagegen dreht sich eher alles darum, eine Öffentlichkeit zu erreichen, die noch vor sieben Jahren, vorm Ende des Suharto-Regimes, von den bildenden Künsten abgeschnitten war. Jeder kann sich noch daran erinnern, wie es war, als Kritiker des Regimes ins Gefängnis gesteckt wurden, Presse, Rundfunk und TV unter staatlicher Kontrolle standen. Vielleicht kann man sich Indonesiens Künstler in einer Lage vorstellen, die jener ähnelt, in der sich viele Künstler im Ostblock nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wiederfanden: plötzlich ohne politischen Gegner dazustehen, frei von der Notwendigkeit, zwischen den Zeilen schreiben zu müssen: auch das Bild des staatlich geduldeten Künstlers als Berater der Mächtigen und Erzieher des Volkes war zerschlagen. Nun konnte Kontakt zur Wirklichkeit hergestellt werden. Und zum Publikum.

Kommunikation mit den Zuschauern, mit zufälligen Passanten, ist auch der wichtigste Motor für den indonesischen Künstler Eko Nugroho. Nicht nur, dass er seine schmalschultrigen Comichelden mit Köpfen in Raumschiffkapseln oder Motorradhelmen bevorzugt auf Häuserwände malt – für das Haus der Kulturen der Welt hat er auch im Wrangelkiez mit der Hilfe kurdischer Jugendlicher eine Mauer gestaltet. Zu Hause, in der kleinen, gut vernetzten Künstlerstadt Yogyakarta, gibt Eko Nugroho halbjährlich ein Fanzine heraus, zu dem er Freunde, Besucher, den Gemüsehändler um die Ecke – einfach jeden, den er trifft – einlädt, Gedichte, Geschichten, Zeichnungen oder was auch immer beizusteuern.

Es ist eine schillernde und viel sagende Ausstellung, die das Haus der Kulturen der Welt da in langwieriger und gründlicher Recherche und in Zusammenarbeit mit Kuratoren vor Ort auf die Beine gestellt hat. Ihre Stärke ist, dass nichts zusammenpasst, dass jeder der gezeigten Künstler eigene Wege geht, dass es Südostasien, so wie wir es uns oft als Ganzes denken, einfach nicht gibt. Es gibt nur viele Länder dort mit jeder Menge Kunst, die längst den Dialog aufgenommen hat und sich nicht wirklich darum kümmert, was der westliche Betrachter von ihr erwarten könnte. Viele der Künstler leben hier und dort und sind mehr auf Reisen als ihr westliches Publikum. Die Angst, exotisch gefunden zu werden, wird nur noch von wenigen der gezeigten Arbeiten reflektiert – etwa indem der international gefeierte Künstler Rikrit Tiravanijaseine seine viel gezeigte Kochperformance wiederholt, mit der er genau das ironisch einlöst, was in Europa jedem zuerst zu Thailand einfällt: die unerreichte thailändische Küche. Die Videokünstlerin Tan Kai Syng aus Singapur reagiert auf den Blick des Westens, indem sie von ihrer eigenen voyeuristischen Liebe zum exotischen Japan schwärmt, und die indonesische Performancekünstlerin Melati Suryodarmo, sesshaft in Braunschweig, betrachtet das Publikum mit einem Fernglas.

Nur einen einzigen unnötigen und blöden Haken gibt es in dieser ansonsten großartigen Ausstellung: Ihre Macher haben leider nicht ganz auf ein Konzept verzichtet, den roten oder vielmehr zartrosa Faden. Mag sein, dass der Titel „Politics of Fun“ den Kuratoren half, im sonst oft biederen und elitären Haus vor allem Künstler durchzusetzen, die nach 1960 geboren sind – und damit eine Generation, die anders als ihre Vorgänger nicht mehr ausschließlich an politischem Engagement und sozialer Verantwortung interessiert ist und darüber oft ihr Medium vernachlässigt. Diese Generation weiß: Einer Tragödie den Ernst zu verweigern, den sie einfordert, kann ihre Macht mindern. Echte Hedonisten lassen sich zudem schlecht einbinden. Wenn sie aufpassen, sind sie nicht einmal für die Konsumgesellschaft zu gebrauchen, deren Segnungen man in der Regel nur genießen kann, wenn man für sie arbeiten geht.

Das sind alles gute, alte Argumente, die da im dazugehörigen Katalog gewälzt werden – dennoch ist es nur das, was selbst die fröhlichsten Arbeiten der jüngsten Künstler im Haus der Kulturen der Welt höchstens in ihrer Ästhetik ansteuern. Man muss sich nur die knalligste ansehen, die der Künstlergruppe KYTV aus Singapur. Für ihre Popstation laden sie Ausstellungsbesucher in eine Karaoke-Box und fordern sie auf, den Star zu machen. Das Ergebnis scheint witzig, will aber etwas ganz anderes: Es geht darum, betonen die jungen Künstler immer wieder, die Leute vom Fernseher zu holen und den Quatsch, den sie sich da täglich einverleiben, einfach mal selbst zu produzieren. Ein didaktischer Ansatz, der genauso in Singapur, der Stadt der ausladenden Shoppingtempel, einleuchtet wie anderswo. Nicht Spaß ist die neue Waffe, wie es die Etikettierung, die unzutreffende Klammer des Hauses der Kulturen will. Es sind nach wie vor die Botschaften, die allerdings bunt verpackt sind oder anderweitig raffiniert ihre Mittel und Wahrnehmungen mitreflektieren. Und diesen Botschaften ist es inzwischen auch ganz egal, ob sie im Westen als bessere Reiseführer missbraucht werden könnten.