„Jetzt alle bitte mal kurz zurücklehnen und einmal tief durchatmen“

Das bleibt von der Woche Immer mehr Details zum Attentäter vom Breitscheidplatz werden bekannt, die Einrichtung von Unisextoiletten sorgt für Aufregung, beim Auszug der Flüchtlinge aus den Turnhallen kommt man voran, was durchaus ein erster Erfolg der neuen Koalition ist, die allerdings laut einer Umfrage bereits an Vertrauen eingebüßt hat

Absturz noch vor dem echten Start

Rot-Rot-Grün verliert

Offenbar haben nicht nur Konservative Schwierigkeiten mit Holms Ernennung

Das muss man als Koalition erst mal schaffen: Noch nicht wirklich mit dem Regieren angefangen zu haben, und schon an Zustimmung in der Bevölkerung zu verlieren. Während Ende Oktober noch 49 Prozent der Berliner zuversichtlich waren, dass die rot-rot-grüne Koalition die Stadt voran bringen werde, blieben davon bis Jahresbeginn noch 44 Prozent. Am meisten kamen laut der Anfang der Woche veröffentlichten Umfrage Zweifel bei den Anhängern der Linkspartei auf: Hier sackte die Zustimmung von 85 auf 68 Prozent ab.

Warum das bei jedem einzelnen so ist, lassen diese Zahlen zwar offen. Zwischen den beiden Umfragen liegt jedoch die Ernennung von Andrej Holm, des Soziologen mit Stasi-Vergangenheit, zum Staatssekretär in der von der Linkspartei geführten Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Ein Zusammenhang zwischen dem Vertrauensverlust und der Personalie ist daher naheliegend.

Überraschend ist, dass der gerade bei den Anhängern der Linkspartei so stark ausfällt. Dass Holms Ernennung bei CDU-Wählern auf Ablehnung stoßen würde, war absehbar und offenbar einkalkuliert. Vorauseilender Gehorsam gegenüber den Konservativen wäre es gewesen, hieß es von linker Seite, den als Soziologe renommierten Holm aus strategischen Gründen nicht zu ernennen, um die neue Koalition nicht sofort zur Zielscheibe zu machen.

Offenbar sind es aber eben nicht nur konservative Kreise, die Schwierigkeiten mit der Ernennung haben. Die neuen Zahlen belegen, was vorab schon stark zu vermuten war: Ziemlich naiv und ohne ihr Personal vorher selbst so zu durchleuchten, wie das danach die politischen Gegner taten, benannte die Linkspartei Holm. Und mit genauso wenig Gespür für das, was kommen würde, stimmten auch die anderen Senatsmitglieder seiner Ernennung zu. „Vetting“ nennt man in den USA so ein Abklopfen vorab, das mit Zustimmung des Betroffenen geschieht – in Berlin kennt man das offenbar nicht.

Die Umfrage ist aber mehr als der in Zahlen gegossene verpatzte Start der ersten rot-rot-grünen Koalition unter SPD-Führung. Gelitten haben durch den Vertrauensverlust auch die Hoffnungen jener, die in dem Berliner Bündnis eine Blaupause für eine solche Koalition nach der Bundestagswahl im September sehen. Stefan Alberti

Vieles geht, wenn man nur will

RAUS AUS DEN TURNHALLEN

Man werde sich bemühen. Ein festes Versprechen aber gab es nicht

Das hat nicht ganz geklappt. Gleich mit seiner ersten Ankündigung, die da lautete, sämtliche mit Flüchtlingen belegten Turnhallen „bis Jahresende“ freiräumen zu wollen, lag der neue rot-rot-grüne Senat daneben. Das neue Jahr hat begonnen und noch immer leben rund 1.500 Menschen in immerhin 17 Sportstätten. Ein Grund für Spott und Häme ist dies aber nicht.

Zum einen deshalb, weil die Zeitangabe „bis Jahresende“ nur auf Nachfrage von Journalisten in die Welt gesetzt wurde. Auf der ersten Pressekonferenz des Senats Mitte Dezember hatte die neue Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) zunächst nur erklärt, man wolle „sofort“ gegen das Elend in den Turnhallen angehen, indem man fertige Ersatzgebäude, für die es wegen Ausschreibungsproblemen noch keine Betreiber gibt, im Rahmen der „Gefahrenabwehr“ übergangsweise von Wohlfahrtsverbänden betreiben lässt.

Auf die Frage, wann denn welche Ersatzgebäude zur Verfügung stünden, erklärte Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD), bis Jahresende würden rund 3.500 Plätze in Tempohomes genannten Containerdörfern „baulich fertig“ sein. Wörtlich sagte er weiter: „Ob es uns gelingt, bis Jahresende die gesamte Kapazität zu nutzen, müssen wir sehen, aber wir bemühen uns.“ Ein festes Versprechen, auf das man jemanden festnageln kann, ist das eher nicht.

Zum anderen ist dann ja in der Tat einiges passiert. Immerhin 900 von 2.800 Betroffenen konnten bis Weihnachten ihre Turnhalle verlassen, mehrere fertige Containerdörfer sowie ein Heim in Spandau, das immerhin seit Juli leer stand, bezogen werden.

Man kann sicher sein: Unter Rot-Schwarz wäre das nicht passiert. Breitenbachs Vorgänger Mario Czaja (CDU) reagierte auf die von ihm verantwortete Panne mit den Ausschreibungen, die dazu führte, dass fertige Gebäude leer herumstehen, mit dem von ihm bekannten Achselzucken. Man müsse eben neu ausschreiben, das dauere mindestens bis Ende Januar, da sei leider nichts zu machen. Auf die Idee, die Lebenssituation von Menschen, die über ein Jahr in Turnhallen leben müssen, als „Elend“ zu bezeichnen, das man nicht länger hinnehmen kann und will, wäre er nie gekommen.

So musste erst eine Linke mit unbedingtem Veränderungswillen kommen und den genialen Trick mit der „Gefahrenabwehr“ aus dem Hut zaubern. Mit diesem Passus aus dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz kann der Senat alles mögliche machen, wenn es „die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ erfordert. Zum Beispiel temporär das Vergaberecht missachten und einfach Betreiber für leer stehende Heime ernennen. Das geht, wie wir nun gesehen haben. Man muss halt wollen. Susanne Memarnia

Bislang kein Molenbeek in Berlin

Spuren des Anschlags

Amri war sehr ­umtriebig, bewegte sich an vielen Stellen der Stadt

Ein Restaurant in Gesundbrunnen in Mitte. Eine Moschee in Moabit, eine andere in Charlottenburg. Eine Bar in Neukölln. Das Flüchtlingsheim in der Spandauer Motardstraße. Der Görlitzer Park, das Spreeufer an der Oberbaumbrücke. Wohnungen im Gesundbrunnenkiez, in Kreuzberg und in Prenzlauer Berg. Zweieinhalb Wochen nach dem Anschlag am Breitscheidplatz sickerten die Tage immer mehr Meldungen durch, wo sich der Attentäter Anis Amri in der Stadt aufgehalten haben soll, welche Berührungspunkte er hier hatte.

Die Erkenntnis: Amri war sehr umtriebig. Er nutzte verschiedene Identitäten, bewegte sich in kleinkriminellen Milieus.

Und das an vielen Stellen in der Stadt. Stimmt auch nur die Hälfte von dem, was inzwischen berichtet wird, dann beschränkte sich Amri nicht auf einen Kiez, sondern war oft unterwegs.

Das bedeutet: Sehr viele BerlinerInnen dürften räumliche, manche auch soziale Berührungspunkte mit dem Attentäter gehabt haben. Klar wird man hellhörig, wenn man erfährt, dass der Terrorist vor der eigenen Haustür vorbei spazierte. Aber ändert das am Ende wirklich etwas am Bild der eigenen Stadt?

Es ist nicht überraschend, dass es in Berlin auch Islamisten gibt. Und ja, es kann sein, dass so jemand neben einem an der Ampel steht. Das weiß man nicht. Anonymität und Heterogenität gehören zu einer Großstadt schließlich dazu.

Letztlich ist Anis Amris Umtriebigkeit für Berlin sogar eine gute Nachricht: Nach dem, was bisher vorliegt, kann keinem einzelnen Stadtteil das Stigma des IS-Terrornests verpasst werden, wie das etwa in Brüssel passierte. Ein Berliner Molenbeek gibt es – bislang zumindest – nicht. Erst so eine Zuschreibung dürfte die betroffenen NachbarInnen wirklich verunsichern.

Antje Lang-Lendorff

Ein Problem mit dem mal Müssen

Aufreger UnisexToiletten

In den Medien wird das Thema von einem süffisanten Unterton begleitet

In New York sind sie seit dem 1. Januar Pflicht in sämtlichen öffentlichen Gebäuden, Bars und Restaurants: Unisextoiletten. Berlin ist noch nicht ganz so weit: Im Februar 2015 beschloss das Abgeordnetenhaus, eine Machbarkeitsstudie zu der Frage durchführen zu lassen, in welchen öffentlichen Gebäuden die Einrichtung solcher Toiletten möglich sei, ohne gegen die Arbeitsstättenverordnung zu verstoßen, die vorschreibt, dass die getrennte Nutzung von Toilettenräumen möglich sein muss.

Jetzt gibt es das Ergebnis: In allen zehn untersuchten Häusern sei „die Einrichtung von WCs für alle Geschlechter ohne Nutzungseinschränkung möglich“. Ende März soll es eine Kostenschätzung geben, die Studie selbst kostet das Land 5.000 Euro. Das Ergebnis der Studie wie auch den weiteren Zeitplan teilte die zuständige Verwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung in einem Zwischenbericht kurz vor Weihnachten wie vorgeschrieben dem Abgeordnetenhaus mit.

In Berlin dauert ein Verwaltungsvorgang also verhältnismäßig lange – nichts neues. Bisher wurden dafür 5.000 Euro ausgegeben – ziemlich überschaubar. Am Ende dieses Verwaltungsvorgangs wird voraussichtlich stehen, dass einige Toi­letten in einigen Gebäuden der Stadt mit einem anderen Schild versehen werden, um eine Gruppe von Menschen, die eine Minderheit, aber eben existent ist, besser vor Diskriminierung zu schützen. Auch kein Aufreger, sollte man meinen.

Aber weit gefehlt: Weil mehrere Medien am Mittwoch fälschlicherweise behaupteten, der Zwischenbericht sei die erste Drucksache gewesen, die die neue Justizverwaltung an das Abgeordnetenhaus geschickt habe, wird die Empörungsmaschine angeschmissen. Der Justizsenator habe die falsche Prioritätensetzung, er kümmere sich lieber um die Probleme von Minderheiten als die der Mehrheit. Die AfD empört sich über die „grundsätzliche Unsinnigkeit des Genderismus“, die Bild-Zeitung fragt scheinheilig, „ob man mal die Frauen gefragt habe“, und auch in seriöseren Medien wird das Thema von einem süffisanten Unterton begleitet: Gibt es denn keine wichtigeren Probleme?

Doch, die gibt es. Und wenn sich alle mal bitte kurz zurücklehnen würden, einmal tief durchatmen und den Blick ganz kurz auf die Fakten lenken, würden sie feststellen, dass auch niemand etwas anderes behauptet hat.

Oder es bleibt eben bei der Schnappatmung – die New Yorker können da vermutlich nur milde lächeln. Malene Gürgen