Nett, aber neurotisch

Retrospektive Im Babylon Kino laufen 30 Woody-Allen-Filme. Der Mix aus Slapstick und Melancholie ist bis heute stilprägend

Könnte eine Metapher sein, ist aber real: Woody Allen als Spermium kurz vor der Ejakulation in „Everything You Always Wanted To Know …“ Foto: Promo

von Carolin Weidner

Über einen Zeitraum von zehn Jahren trifft sich der französische Filmkritiker Jean-Michel Frodon mit Woody Allen in einem Pariser Edelhotel. Immer zur Weihnachtszeit, denn Allen verbringt diese gerne Europa und am liebsten in Frankreich. Immer entstehen dabei lange Interviews, aus denen schließlich ein Buch wird.

„Woody Allen im Gespräch mit Jean-Michel Frodon“ heißt der Band und er ist schon ein bisschen älter. Allen äußert sich darin recht freigiebig. Besonders schön ist die ausführliche Eingangssequenz, ein von Frodon selbst verfasstes Porträt des Regisseurs. Er lässt das Bild eines Woody Allen auferstehen, der sich in einem übergroßen Hotelzimmersessel aufhält, höflich und vornehm ist wie ein Brite, sich gewählt und klar artikuliert, ein bisschen naiv, aber stets intellektuell. Überraschende Erkenntnis: Der „echte“ Allen hat nichts mit jenem wuseligen, ungeschickten Hypochonder, wie er in zahlreichen Filmen anzutreffen ist, gemein.

Übrigens, so Allen an einer Stelle, sei dies auch die einzige Figur, die er überhaupt zu spielen wüsste: den neurotischen Verschnitt eines New Yorkers (dem hin und wieder auch an der US-amerikanischen Westküste zu begegnen ist, beispielsweise in „Play it Again, Sam“ von 1972, doch das eher als Ausnahme). Ein Umstand, den er ebenso mit Diane Keaton teile, denn auch die könne niemand anderen darstellen als Diane Keaton.

Woody Allen hat im Laufe seiner Karriere mit vielen Schauspielern gearbeitet und generell: ohnehin eine Menge gearbeitet. Reich geworden ist er dabei angeblich aber nicht – zumindest schien das noch in den frühen 2000er Jahren der Fall, bei Veröffentlichung des Interviewbandes. Nicht mehr als den gewerkschaftlichen Mindestlohn von 5.000 US-Dollar pro Woche würde Allen seinen Schauspielern zahlen können, egal ob No Name, Madonna (zu sehen in „Shadows and Fog“, 1991) oder auch sich selbst. Stars hätten nicht einmal einen Anspruch auf eine Gewinnbeteiligung bei einem großen Kassenerfolg.

Hingegen beschwört Allen den Eindruck, seine Filme entstünden in einer kleinen Manufaktur mit altmodischer Ausstattung, in welcher er tagein, tagaus sitzen würde – eine bürgerliche Schreibstube, kein Künstleratelier mit Empfangshalle. Über 30 Filme sind aus dieser beschaulichen Fließbandarbeit hervorgegangen und 31 können aktuell im Rahmen einer umfangreichen Woody-Allen-Retrospektive im Kino Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz gesehen werden. Sie läuft bis zum 18. Januar.

Der „echte“ Allen hat nichts mit jenem wuseligen Hypochonder gemein

Eine Woche später wird sie nebenbei von einer Lubitsch-Reihe abgelöst, was eine treffliche Abfolge ergibt, denn Allen bezeichnet Ernst Lubitsch als eines seiner Vorbilder und dessen „Trouble in Paradise“ (1932) als seinen Lieblingsfilm. Niemandem seien bessere Komödien gelungen.

Auch Woody Allen hat viele vorgelegt: Stilprägend beim Kombinieren von Slapstick und One-linern sind „Take the Money and Run“ (1969), „Bananas“ (1971) oder „Everything You Always Wanted to Know About Sex, But Were Afraid to Ask“ (1972). Einige Jahre später geht es „seriöser“ zu, was einem weiteren Idol Allens zu verdanken ist: Ingmar Bergman. „Interiors“ (1978), „Hannah and Her Sisters“ (1986) und auch „Another Woman“ (1988) stehen für dieses Ansinnen.

Am charmantesten wird Woody Allen allerdings, wenn beide Komponenten aufeinandertreffen wie in „Alice“ (1990). In diesem Upper-West-Side-Alptraum mit Mia Farrow bedarf es den unzeitgemäßen Dr. Yang und seine magischen Kräuter, um das unter der Nobelrobe verschüttet gegangene Selbst wieder hervorzuholen. Tragischer trifft es Robin Williams im konfusen und visuell aufwendigen „Deconstructing Harry“ (1997), dessen Charakter eines Tages buchstäblich der Unschärfe anheimfällt. Das ist kein Effekt, den man Mitte der 1990er Jahre mal nebenbei hinbekommt – George Lucas’ Unternehmen „Industrial Light and Magic“ für Special Effects muss unter die Arme greifen, was sicher schwerer zu Buche schlägt als Williams Gage. Mittlerweile spielt Woody Allen in Sachen Budget vermutlich in einer anderen Liga.

Woody Allen Retrospective: Kino Babylon, 1.–18. 1.: http://www.babylonberlin.de/woodyallen.htm