Im Feuilleton tranken sie Wein

MEDIUM Die „Frankfurter Rundschau“ war eine Institution der Bundesrepublik, errichtet um Adorno und Äppelwoi. Jetzt ist sie die erste Überregionale, die Insolvenz anmeldet. Was bedeutet das für den Menschen und seine Zeitung?

■ SZ, 412.994 verkaufte Exemplare, davon E-Paper 13.971: „Falls es wirklich aus sein sollte mit ihr, stirbt auch das erste und letzte Gebot des Journalismus, nämlich, dass er mehr sein sollte als ein Gewerbe.“

Willi Winkler, 14. 11. 2012

■ FAZ, 354.317 verkaufte Exemplare, davon E-Paper 11.489: „Wer sich um die deutsche Presselandschaft verdient machen will, er hätte in Frankfurt die Chance dazu. Auf die Redaktionsmannschaft, deren Leidensfähigkeit legendär ist und die man nur dafür bewundern kann, wie sie bei alldem täglich Blatt machte, dürfte er zählen.“

Michael Hanfeld, 14. 11. 2012

■ Die Welt, 250.959 verkaufte Exemplare, davon E-Paper 4.216: „Falls irgendwann wirklich der jüngste Tag kommt, der Tag also, an dem die letzte Zeitung ihre letzte Ausgabe druckt, dann wird doch immer noch ein Journalist übrig sein, um darüber zu berichten.“

Andreas Rosenfelder, 26. 11. 12

Quelle: ivw, 3. Quartal 2012

AUS FRANKFURT AM MAIN PETER UNFRIED
ILLUSTRATION MICHAEL SZYSZKA

Sie haben so viele Abschiedsfeste gefeiert, dass sie es irgendwann einfach nicht mehr aushielten. „Mein Fest war wohl das letzte einigermaßen lustige“, sagt Herbert Fritz, „danach war es nur noch traurig.“

Fritz war über drei Jahrzehnte Redakteur bei der Frankfurter Rundschau. Er hat lange Haare und einen grauen Bart. Wirkt wie ein klassischer Sponti und ist immer noch einer. Die meiste Zeit machte er zusammen mit einer Kollegin den Reiseteil. Einen der renommiertesten der Republik, wie er sagt. Erschien samstags und war zeitweise vierzehn Seiten dick. Richtige Geschichten, große Geschichten, auch mal 500 Zeilen, das ist etwa so viel wie dieser Text. Bis Chefredakteur Uwe Vorkötter ihm 2007 sagte, die Reise werde ab sofort outgesourct; das übernehme Raufeld Media in Berlin. Das sei einfach billiger. Und ich, fragte Fritz. Kein Problem, sagte Vorkötter. Ab da machte er Vermischtes, bunte Nachrichten.

2011 wurden dann die überregionalen Ressorts zur Berliner Zeitung outgesourct, und er dachte: Jetzt muss ich weg. Im April ging er. Abfindung und Umstände waren ganz okay, aber den Tritt in den Arsch hatte er ja schon vier Jahre vorher bekommen. Jetzt sitzt er auf seinem Sofa, zu Hause in Preungesheim, ganz im Norden von Frankfurt.

Stirbt die Zeitung, fragen gerade alle. Vielleicht kriegt man eine Antwort, wenn man sich die Rundschau ein wenig genauer anschaut. Gar nicht, um ihre Fehler zu erklären. Sondern um zu verstehen, wie das kam, dass nicht mehr sie aus Frankfurt definiert, was fortschrittlich und gerecht sein heißt in diesem Land.

Die Frankfurter Rundschau ist die erste überregionale Zeitung in Deutschland, die Insolvenz angemeldet hat. Bei der Rezeption ihres drohenden Endes ist es ein bisschen wie beim Lungenkrebs eines Bekannten. War er Raucher? Ja.

Na, dann.

Fast alle Zeitungsverlage und die meisten Journalisten haben die gewaltige Wucht der Digitalisierung und ihre Auswirkung auf Leseverhalten, Anzeigenmärkte und das Erlösmodell von Journalismus lange oder immer noch nicht erkannt. Insofern suchen vor allem Medienleute nun Gründe, die das Ende von Financial Times Deutschland und Rundschau erklären. Man sucht Fehler, die man selbst nicht gemacht hat. Weshalb es einen auch nicht treffen wird.

Zum Beispiel hat die Rundschau als einzige überregionale Zeitung ihr armbreites nordisches Format auf das heftartige, kleine Tabloid umgestellt. Ha! Na, dann.

Das war aber nicht die Krankheit, sondern längst ein Therapieversuch. Der alles noch schlimmer gemacht hat? Sieht so aus, denn die Rundschau hat – anders als die überregionale Konkurrenz – zuletzt auch gewaltig an Käufern verloren.

Man muss halt auch einfach feststellen, dass die Rundschau-Milieus, die Gewerkschaften, die Industriegesellschaft und nicht zuletzt die SPD an Kraft und Bedeutung verloren haben.

Im dritten Quartal 2012 ist die offizielle Auflage 117.000. Wirklich verkauft worden sind 81.700 Exemplare, E-Paper inklusive. Allein seit dem Einstieg des DuMont Verlages 2006 hat man 30.000 Käufer verloren, also mehr als ein Viertel.

Sie war das Organ der Revolte von 68

Zeitungsverlage lebten im 20. Jahrhundert von ihrem Anzeigengeschäft, und das sehr gut. Die Rundschau lebte von ihrem lokalen Anzeigenmarkt. Das galt als gottgegeben, genau wie die Abonnenten. Durch die Digitalisierung und Wirtschaftskrisen sind die Werbeeinnahmen seit 2001 stark zurückgegangen. Weltweit etwa um ein Drittel. Zeitungen bekommen immer weniger bezahlte Anzeigen und haben immer weniger zahlende Leser, was sie selbst durch offensive Verschenkkultur im Netz noch befördern.

Da helfen keine staatstragenden Reden auf Podien inklusive Demokratiebeschwörung, da hilft nur eine Vorstellung in der Geschäftsführung, wie man trotz der verschwundenen Anzeigenmärkte Geld verdient. Die habe es aber nie gegeben, sagt ein Redakteur, genauso wenig wie eine gesellschaftspolitische Idee in der Chefredaktion, wie diese Zeitung im 21. Jahrhundert auszusehen hatte. „Es ging nur um Kostenvermeidung“. Irgendwann schlossen sie auch noch vier von sieben Regionalausgaben. Für manche der entscheidende Grund für den Auflagenabsturz.

Die Zeitung sei „kaputtgespart“ worden, findet auch Herbert Fritz. Er hat sich ein Blatt neben seinen Sessel gelegt, auf das er die aus seiner Sicht zentralen Geschehnisse notiert hat. Die Umstellung auf das kleine Tabloid-Format im Mai 2007 sei ein Fehler gewesen, weil das dem Inhalt schadete. Den „Todesstoß“ sieht er aber in der Aufgabe der Kernressorts, Politik, Wirtschaft, im vergangenen Frühjahr: „Ab da war es nicht mehr die Rundschau“, sagt er, „sondern die Berliner Zeitung mit Lokalteil.“

Echte Rundschau-Leser wollen alles von einem Weltkern Frankfurt aus gedeutet haben, also mit Referenzbezügen zu Adorno, Äppelwoi und der Eintracht. Aber fast alles kommt jetzt aus Berlin: Politik, Wirtschaft, Feuilleton. Geschrieben und gemacht fast ausschließlich von Redakteuren der Berliner Zeitung und einer sogenannten DuMont-Redaktionsgemeinschaft. Ein paar Rundschau-Leute waren nach Berlin gewechselt, aber die konnten den Daheimgebliebenen nur leidtun. Die werden doch nur gemobbt, denken die Frankfurter. Die schlurfen vor sich hin, denken die Berliner.

Fritz, 62, stammt vom Rand der Schwäbischen Alb und kam zum Studium nach Göttingen. Dort politisierte ihn 1977 das Göttinger Mescalero-Flugblatt, das „klammheimliche Freude“ über die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback durch die RAF bekundete. In Göttingen ging es zwischen Polizei und Studierenden ab. Fritz war dabei. Später schloss er sich der Anti-AKW-Bewegung und Friedensbewegung an. Er wollte zur Rundschau, er landete bei der Rundschau. 1978, er fühlte sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Es war, sagt er, viel Arbeit, aber selbstbestimmt, sehr befriedigend. „Wenn man eigenverantwortlich arbeiten kann, kommt für alle am meisten heraus. Das ist auch die effektivste Art im Sinne des Arbeitgebers, weil sie die Selbstausbeutung beinhaltet.“ Deshalb wurden so viele bei der Rundschau alt. Gutes Klima, gutes Gefühl: „Es war sehr schön.“ Die ersten beiden Jahrzehnte.

Die Frankfurter Rundschau war die erste Zeitungsgründung im Westen Deutschlands nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Sie war von Anfang an sozialdemokratisch geprägt. Mehr oder weniger die einzige Opposition der Adenauer-Jahre. Legendär wurde sie als Organ der Revolte von 1968.

Als die Studierenden sich in der zweiten Hälfte der Sechziger gegen Eltern, Uni und Politik der Bundesrepublik auflehnten, schnitt der Freiburger Studentenführer Klaus Theweleit Artikel aus der Rundschau aus. „In der Rundschau standen die wichtigen Texte“, sagt er. Er steckte sie dann in einen Ordner, damit die anderen Rebellen sie auch lesen konnten. Praktisch wie Facebook oder Twitter heute. Anfang der Siebziger hörte der Philosoph und Autor von „Männerphantasien“ auf, die Rundschau zu lesen. Hatte sich für ihn erledigt. Er war früh dran. Für andere begann da erst ihre größte Zeit – als Wegbereiter der sozialliberalen Jahre, der Koalition der SPD mit einer FDP, die sehr anders war als heute und mit dem ersten SPD-Bundeskanzler Willy Brandt von 1969 bis 1974. Mit dessen Nachfolger Helmut Schmidt war schon wieder vieles anders.

Tja, wann hörte das auf mit dem „Rundschau“-Lesen?

Aber wenn man, unrepräsentativ, klar, mit Leuten über die Rundschau spricht – sie wird übrigens traditionell „Die Rundschau“ genannt und nicht etwa „Äff-Ärr“ –, dann gibt es überzeugte Altabonnenten, die nichts auf ihre Zeitung kommen lassen. Man erkennt sie daran, dass sie „Antifaschismus“ sagen. Und es gibt auf der anderen Seite auch großes Bedauern, aber auch das Bekenntnis, die Rundschau nicht mehr gelesen zu haben. Seit wann? Tja, wann hörte denn das auf? Meistens ist es dann länger her, als derjenige zunächst denkt. Meistens war es, lange bevor man auf Tabloid umstellte.

Nur Daniel Cohn-Bendit, Frankfurts größter Held von 1968, liest weiter neben taz und FAS auch Rundschau. Heinz Bude dagegen weiß genau, wann für ihn Schluss war. Vor fünf Jahren.

Der Soziologieprofessor Bude hat rheinischen Arbeiterhintergrund und für den SPD-Kanzler Schröder die Berliner Republik entworfen, der müsste doch …? „Die Rundschau hat sich erübrigt als gesellschaftliche Informationsquelle über die Bundesrepublik“, sagt er am Telefon. Er ist gerade in Kassel, wo er lehrt. Bude sagt auch Nettes, doch in der Analyse ist er hart: Die Informationen über jene Milieus, die er sich früher in der Rundschau holte, kriege er heute anderswo, das „wahlentscheidende sozialdemokratische Milieu, Schröders Neue Mitte, kommt in der Rundschau seit zehn Jahren nicht mehr vor“. Was die IG Metall denke, erfahre er auch nicht. Und dann sei da dieser „Beschwerdeton“, die „Beschwerdementalität.“

Was er sich allerdings frage: Wo die aufgeklärten Sozialliberalen abgeblieben seien, die früher in der Rundschau schrieben. Sozialliberalismus ist für ihn „die Deutungsfigur, die den politischen Raum neu aufmischen könnte“. So habe die Rundschau im Augenblick des Sterbens noch eine interessante Botschaft hinterlassen: die Notwendigkeit der Wiedererfindung dieses Sozialliberalismus. Das meint für ihn die „Besetzung des Raums, der dadurch entstanden ist, dass keiner mehr an den Markt, aber auch niemand mehr an den Staat glaubt“. Bude sagt: „Wenn Marktversagen genauso möglich ist wie Staatsversagen, dann muss man wohl anfangen, anders zu denken.“ Aber darüber sei in der Rundschau nichts zu lesen.

Selbstverständlich haben sie nicht nur im Arbeitsvertrag unterschrieben, dass sie „linksliberal“ schreiben würden, sie haben auch debattiert, „was linksliberal heute“ bedeutet. Im Grunde versuchten sie das ja mit jeder Zeitung zu vermessen, die sie machten. Herbert Fritz ist aufgestanden und geht sein geräumiges Wohnzimmer ab. An den Wänden hängen Fotos, die er auf seinen Reisen gemacht hat.

Dass sie verkrusteten, dass sie jeden Zeitgeist an sich vorbeirauschen ließen, dass sie „langweilig, berechenbar, linkshaberisch“ wurden, wie der Welt-Herausgeber Thomas Schmid schrieb, der einst linksradikaler Revolutionär in Frankfurt war?

Kaputtgespart, sagt der Reiseredakteur, dessen Reiseteil outgesourct wurde. Neuer Chef. Neue Idee

Fritz ist jetzt am Esstisch angekommen, dreht sich um und sagt: „Das stimmt einfach nicht.“ Das ewige Lamento, die Rundschau habe alles verpennt. Sei engstirnig auf Linie geblieben, als die Entweder-oder-Kultur nach dem Ende des Sozialismus 1989 immer poröser wurde und sich irgendwann auflöste? „Quatsch.“

Doch als der Verleger Alfred Neven DuMont sich nach dem Kauf der Rundschau mit den Ressortleitern traf und sie neugierig fragte, wie sie denn „linksliberal“ zeitgemäß in Zeitung umsetzen würden, bekam er eben auch keine Antwort. Eine souveräne Modernisierung sei nicht gelungen, sagt einer, der es an leitender Stelle probiert hat. Es gab auch spannende Innovationsanstrengungen in den Nullerjahren, die aber nicht mehr wahrgenommen wurden von denen, die sich abgewandt hatten.

Speziell in Frankfurt war ein Bekenntnis zur Rundschau immer auch eine Ablehnung der FAZ gewesen. Ein Nein zur Bankenwelt und ein Ja zur Priorität gesellschaftlicher Anliegen.

Und nun gibt es ein Problem: Konservative, die sich bewegen, lernen dazu. Aufstiegsgeschichte. Linke, die sich bewegen, geraten unter Verratsverdacht, vor allem bei sich selbst. Abstiegsgeschichte.

Die FAZ bewegte sich, hatte irgendwann mehr als nur Geld im Kopf und knackte das Diskursmonopol der anderen Seite, indem sie beide Seiten übernahm. Und heute lesen Leute die FAZ – die Sonntagszeitung FAS sowieso –, von denen man dächte, sie lesen oder läsen immer noch Rundschau oder taz. Aber es ist nicht andersherum.

Und kein Mensch käme auf die Idee, die Süddeutsche, früher eher konservativ, zu fragen, wie sie linksliberal heute definiert.

Dass man als Zeitung auf zwei Beinen steht, einem politisch-wirtschaftlichen Bein und einem gesellschaftlich-kulturellen Bein, hat die FAZ auch schneller verstanden.

Der Herausgeber versuchte es mit Gedichten

Als Wolfram Schütte die Rundschau zum Feuilleton der neuen Gedanken machte, wussten die Politikjungs gar nicht, wie wichtig das war, um neben Gewerkschaften, SPD und evangelischer Kirche auch die linksliberalen Studentenkreise und die Kulturszene für sich zu gewinnen. Ganz zu schweigen von damaligen Randgruppen wie Frauen. Die Rundschau war männlich und streng – und basta.

Der legendäre Herausgeber, Chefredakteur und also uneingeschränkte Herrscher Karl Gerold hielt seine eigenen Gedichte zur Propagierung des Linksliberalismus für Kultur. Er publizierte sie gnadenlos auf Seite 3, obwohl sie nach Einschätzung von sachverständigen Zeitzeugen „fürchterlich“ waren: „Kaum einer sieht, wie hinterrücks der fahle / Faschismus rings um diesen Erdball rennt.“

Schütte kam 1967 zur Rundschau und ist ein Protagonist der großen Jahre. Damals, sagt er am Telefon, las jeder sie, „der etwas auf sich hielt“. Jetzt ist er 73 Jahre alt und kommt gerade von einem Filmfestival zurück. Er lebt immer noch in Frankfurt, will sich aber nicht treffen, nur telefonieren.

Fotos zeigen einen graubärtigen Brillenträger. Schütte war eigentlich Filmkritiker, aber er setzte nicht nur den Neuen Deutschen Film durch, sondern auch Arno Schmidt, lateinamerikanische Literatur und die Frankfurter Schule, also Adorno und mit ihr das Theorie-Feuilleton. Das Verhältnis zur Neuen Frankfurter Schule, den Pardon- und Titanic-Ironikern um den Großschriftsteller Eckhard Henscheid war ambivalent. Einerseits holte er sie in die Rundschau, andererseits witzelten sie über seinen Ernst.

Den Abstieg der Rundschau verknüpft er mit dem Auftauchen der taz ab 1979 und der Öffnung der FAZ, zunächst in den frühen Siebzigern in der Person von Karl Heinz Bohrer, dann strategisch durch den heutigen Herausgeber Frank Schirrmacher, der rechts/links auflöste, was die Altlinken bis heute verwirrt, und damit das Feuilleton zum Herzen der FAZ machte.

Bei der Rundschau habe man „seinen Stiefel weitergemacht“, sagt Schütte. Gerade der Linke ist oder wird bisweilen schnell strukturkonservativ und der Redakteur sowieso, aber auch das hatte die Rundschau nicht exklusiv.

Dass man auch Pop und Punk verpasst habe, sei nur „halbwegs richtig“, sagt Schütte. Mit der Umstellung auf Tabloid habe man dann jedenfalls „die alten Leser verschreckt und neue nicht gewonnen“. Letztlich seien es immer nur Layoutreformen gewesen, keine konzeptionellen.

Viele dachten, Schütte müsse Asket sein, da er bei der Rundschau war und in der Gewerkschaft und im Redaktionsausschuss. Aber er kaufte sich einen Alfa Romeo, nannte ihn nach seinem Lieblingsdichter „Jean Paul“ und brauste damit nach Cannes zu den Filmfestspielen. Die anderen im Rundschau-Haus tranken Bier und spielten Skat, im Feuilleton tranken sie Wein, guten.

Der Großkritiker Hellmuth Karasek wollte ihn zum Spiegel holen und andere sonst wohin, aber Schütte blieb. „Ich war mein eigener König“, sagt er. Und dass das bei den Kollegen im Grunde auch so gewesen sei. Schüttes Freunde lesen die Rundschau meist auch nicht mehr. „Du bist ja auch nicht mehr da“, sagen sie. Aber auch Schütte, dem seine Frau einst eine Liebesbeziehung attestierte, zu dem, was da täglich gemacht wurde und erschien, Schütte sagt: „So, wie sie jetzt ist, ist die Rundschau nicht mehr meine Zeitung.“

Schütte ging 1999. Kurz darauf begann für den Reiseredakteur Herbert Fritz das richtig harte Jahrzehnt. Er hatte in seinen guten zwanzig Jahren genau zwei Chefs gehabt; bis 1992 Werner Holzer und bis 2000 Roderich Reifenrath. Auch Fritz sieht es so, dass beide die Redaktion weitgehend machen ließen. Holzer war ein jovialer Patriarch, der zu seinen Leuten in Sitzungen „Kinder“ sagte. Reifenrath ist ein höflicher hessischer Liberaler. So höflich, dass er nichts zu alledem sagen will, solange noch ein Fünkchen Hoffnung besteht. Man sucht gerade Investoren.

Als er ging, wurde schon viel an der Zeitung rumgemäkelt und – von heute aus gesehen – hatte man da womöglich bereits die Zukunft verpasst. Aber die Auflage war offiziell bei scheinbar stabilen 190.000. Die Rundschau haute ein neues Wochenendmagazin raus, 24 Seiten im alten großen Format, keine Theorie-Riemen, poppig, und vornan wollte man damit sein. Das Ding sieht heute noch gut aus.

Fritz war Gründungsmitglied, denn die Reise wurde da reingesourct. Idee vom neuen Chefredakteur. Passte zwar nicht, aber dann machte man es halt passend. Der nächste Chef nahm sie dann wieder raus, weil der eine andere tolle Idee hatte, wie es hinhauen würde. So war das jetzt. Nächster Chef, nächstes Konzept. Erster Umzug, zweiter Umzug. Erste Einsparungen, nächste Einsparungen, nur noch Einsparungen.

„Die ‚Rundschau‘ hat sich erübrigt als gesellschaftliche Informationsquelle“, sagt der Soziologe

Erst mussten sie sich 2003 vom damaligen CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch und einer Landesbürgschaft retten lassen, dann 2004 von der SPD, die den Großteil der Rundschau kaufte, um später die Mehrheit wieder zu verkaufen. Jetzt ging es um die Existenz, da machte man ethische Kompromisse, wer würde das nicht?

Im Juli 2006 übernahm M. Dumont Schauberg 50 Prozent der Anteile plus eine Aktie, und dann ging das Sparen erst richtig los. Daneben entstand irgendwann auch eine sehr gelungene iPad-Ausgabe, doch die bringt vielleicht Preise, aber keine Erlöse. Heute sind von einst 1.700 Mitarbeitern noch knapp 500 übrig.

„Was diese Redaktion alles mitgemacht hat, ist ungeheuer“, sagt Fritz. Haben sie sich denn nicht gewehrt? Hm, sagt er.

Selbstbestimmung nahm ab, Selbstausbeutung entsprechend auch. Druck nahm zu. Angst auch. Durch die Gänge huschten die Entlassungskommandos der Unternehmensberater KPMG. Sie wurden immer weniger und ihre Heimat, das Rundschau-Haus am Eschenheimer Tor, wich der Zufahrt zu einer Tiefgarage, war das nicht symbolisch?

Jetzt sitzen sie in einem Neubau in Sachsenhausen, ein paar Schritte vom Südbahnhof. Eigentlich auch ganz schön. In den Fenstern hängen Rettungsaufrufe mit der Bitte: „Lassen Sie uns Geschichte weiterschreiben!“ Dafür arbeiten sie. Aber reden wollen sie darüber nicht, sagt Chefredakteur Arnd Festerling. Nicht jetzt.

Gegenüber ist eine klassische Trinkbude. Auf der Markise prangt der Schriftzug der Frankfurter Rundschau. „Schon schade“, sagt der Budenchef. Wie viel Rundschauen er täglich verkauft, weiß er jetzt gar nicht.

Ein Exchefredakteur schreit nach dem Staat

Ist die Rundschau ein Beleg dafür, dass Zeitungen, denen es mehr um die Gesellschaft geht und weniger um den Gewinn, unter den heutigen Bedingungen bei privatwirtschaftlichen Verlegern nicht gut aufgehoben sind, wie ihr früherer Chefredakteur Wolfgang Storz in der taz schrieb, um sofort nach dem Staat zu schreien? Sie ist wohl doch eher ein Beispiel, wie es kommen kann. Nicht, wie es kommen muss.

In Preungesheim erzählt Herbert Fritz jetzt noch, dass er sich an einem Rettungsaufruf der Ehemaligen beteiligt hat. Wolfram Schütte hat auch unterschrieben. „Es ist immer noch eine gute Zeitung, eine Zeitung, die es wert ist, sie zu erhalten“, sagt Fritz. Aber das sieht er wie Schütte: „Es ist halt nicht mehr unsere Rundschau.“

Fritz ist auch professioneller Fotograf. Bei seinem Abschiedsfest zeigte er Dias aus seinen 33 Jahren bei der Zeitung. Als die Bilder vom alten Rundschau-Haus auf der Wand aufleuchteten, fingen einige im abgedunkelten Raum an zu weinen.

Peter Unfried, 49, las die Rundschau erstmals in den späten Achtzigern während des Studiums in Tübingen. Immer montags. Wegen des Fußballteils