Manege frei für die Uni

Forschung In Schweden kann man Zirkuswissenschaft studieren, in Frankreich wird die Zirkuskunst wissenschaftlich erforscht.
Eine Doktorandin aus Münster will erreichen, dass der Zirkus künftig auch an deutschen Unis wahrgenommen wird

Unterhaltung für Familien, aber auch Sujet für die Wissenschaft? Die Zirkuskunst, hier Miss Orford mit Elefant 1907 Foto: Zander & Labisch/Ullstein Bild

von Thomas Krämer

Gastiert ein Zirkus in einer deutschen Universitätsstadt, so steht das Zelt bestenfalls in der Nähe der Alma Mater. Mag sein, dass in Universitäten bisweilen zirzensische Verhältnisse herrschen – zu einem Gegenstand akademischen Interesses oder gar zur Zirkuswissenschaft selbst haben es Löwen, Clowns und Akrobaten hierzulande noch nicht gebracht. Geht es nach dem Willen von Franziska Trapp, soll sich das ändern.

Obwohl derzeit noch immer rund 300 Zirkusse, oftmals Familienunternehmen, unterschiedlicher Größe durchs Land reisen, sucht man einen Lehrstuhl für Zirkuswissenschaft vergebens in der deutschen Hochschullandschaft. „Bisher haben sich höchstens Einzeldisziplinen wie Anthropologie, Theaterwissenschaft oder Semiotik mit zirkusnahen Themen beschäftigt“, sagt Franziska Trapp, selbst Literaturwissenschaftlerin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Nach ihrem Master schreibt sie nun an der Graduate School Practices of Literature im Fachbereich Philologie an ihrer Doktorarbeit. Ihr Arbeitstitel: „Zur Narrativierung der zirzensischen Kunst – Grundlegung einer neuen Zirkusästhetik“.

Doch Franziska Trapps Interesse am Leben in der Manege ist nicht rein wissenschaftlicher Natur. Schon vor der Uni war es ihre Leidenschaft. Aufgewachsen im ostwestfälischen Bünde, entdeckte sie mit zwölf das Leben unter dem Chapiteau – dem Zirkuszelt – für sich. Noch immer schwärmt sie von „ganz neuen Welten und unbegrenzten Möglichkeiten“, die sie dort kennen lernen durfte. Die Faszination dieser anderen Welt teilte sie schnell mit anderen Kindern, eine erste „Kompanie“ Gleichgesinnter fand sich rasch zusammen. „Wir sind dann jährlich in den Sommerferien von Bielefeld aus auf ,Tournee‘ gegangen“, lacht die 28-Jährige. „Daraus ist eine Varieté-Gruppe entstanden, die besteht jetzt noch“, sagt sie nicht ohne Stolz. Die zehn Mitglieder der Truppe „Varieté olé“ touren alle zwei Jahre quer durch die Republik. Die Vorliebe der Münsteranerin gilt neben dem Seiltanz der Akrobatik: „In unserer Nummer bin ich die Porteuse, meine Partnerin macht einen Handstand auf meinen Schultern.“

Auch wenn der Zeitpunkt für den Beginn des neuzeitlichen Zirkus umstritten ist, steht doch so viel fest: Seinen Ursprung hat der Zirkus in der Antike, bei den alten Griechen und Römern mit ihren Wagenrennen und Gladiatorenkämpfen. Aus deren kreis- oder ellipsenförmiger Arena, das dem klassischen Amphitheater nachgebaut war, ging das spätere Zirkusrondell hervor. Und das lateinische Wort für Kreis – circus – hat sich bis heute im Namen vieler Unternehmen erhalten.

Der Wanderzirkus, wie wir ihn kennen, kam erst im 20. Jahrhundert auf

Vom industrialisierten England des 18. Jahrhunderts und von Frankreich ein Jahrhundert später gingen wichtige Impulse für den klassischen Zirkus aus. Stets spielten Artistenfamilien, oft regelrechte Zirkus-Dynastien, eine entscheidende Rolle. „Es entstand vor allem immer dann ein großes öffentliches Interesse am Zirkus, wenn es zu größeren gesellschaftlichen Umwälzungen oder Neuerungen kam“, erzählt Trapp. So zog etwa das elektrische Licht zusätzliche Zuschauer in die Vorstellungen oder Dressuren mit „wilden“ exotischen Tieren, die erst der Kolonialismus nach Europa brachte.

Der Wanderzirkus mit Zelt und all dem, was wir seit Kindertagen mit Zirkus verbinden, kam erst mit dem 20. Jahrhundert auf. Auch dafür, sagt Trapp, sei der technische Fortschritt Wegbereiter gewesen: der Siegeszug der Eisenbahn. Vorher waren Akrobaten, Clowns, Tierdressuren und Zauberei nur in festen Spielhäusern zu sehen, von denen heute nur noch wenige übrig geblieben sind, wie etwa in München bei Circus Krone. Über die Jahrhunderte und die gesamte Entwicklung hinweg hat sich aber eines am Zirkus nicht geändert: die Absicht der Akteure, dem Publikum aus allen Schichten unter der Zeltkuppel ein attraktives Programm zu bieten – eine klassenlose Unterhaltung sozusagen.

Wenn sie der universitären Erforschung des Zirkus in ihrem Heimatland zum Durchbruch verhelfen wollte, das war Franziska Trapp sehr bald klar, dann musste sie zumindest eine gewisse Zeit im Ausland studieren. Länder wie Frankreich, Kanada oder Schweden sind Deutschland auf diesem Fachgebiet weit voraus. „In Schweden zum Beispiel kann man außer dem Master auch ein PhD in Circus Arts machen.“ Trapp selbst ging 2012 mit einem Erasmus-Stipendium für ein Jahr an die renommierte französische Uni Sorbonne und arbeitete sogar in der Produktion und Administration des bekannten Festival Mondial du Cirque de Demain in Paris. „In Frankreich ist der Zirkus einfach viel mehr in das gesellschaftliche Leben integriert als bei uns.“

Kein Zufall also, dass von dort seit den 1970er Jahren die Entwicklung zum zeitgenössischen Zirkus „Nouveau Cirque“ ausging. Typisch für das neue Genre der darstellenden Kunst: Eine Geschichte wird durch traditionelle Zirkuskunst dargestellt. Der moderne Zirkus hat sich vielfach gewandelt: In ihm agieren zumeist professionell ausgebildete Artisten, statt Märschen ertönen vielfältige Musikbeiträge zur Untermalung von schauspielerisch angelegten Darbietungen, und Tierdressuren sind weitgehend verpönt – zunehmend aus Tierschutzgründen .

72 Teilnehmer aus 16 Nationen kamen zur wissenschaftlichen Zirkus-Tagung

Diesen Punkt sieht die Münsteranerin durchaus ambivalent: „Für mich persönlich ist es generell fraglich, dass menschliche Unterhaltung auf Kosten von Tieren stattfindet. Hier haben wir es allerdings mit einem Phänomen zu tun, das keineswegs nur auf das Genre ‚Zirkus‘zu begrenzen ist.“ Mit den Augen der Wissenschaftlerin betrachtet sie Tiernummern hinsichtlich ihres semantischen Gehalts, also hinsichtlich ihrer Bedeutung. „Das Animalische, Andersartige und Wilde ist in vielen neuen und zeitgenössischen Zirkusstücken weiterhin zentral.“ Allerdings würden diese Themen dort mit Hilfe menschlicher Darbietungen visualisiert.

Zurück in Deutschland war Franziska Trapp zwar zunächst erneut als Einzelkämpferin für ihre Sache unterwegs. Aber die neu gewonnenen Kontakte sollten sich als ausgesprochen nützlich erweisen, um eine erste internationale Tagung zum Thema „Semiotics of the Circus“ im Frühjahr 2015 auf die Beine zu stellen. Eine Tagung, die, wie Franziska Trapp urteilt, auf „großes Interesse der Fachwissenschaftler“ gestoßen sei. Immerhin seien 72 Teilnehmer aus 16 Nationen am Schlossplatz vor dem Uni-Hauptgebäude zusammen gekommen – und zwar stilecht unter der Zeltkuppel des „Cirque Bouffon“, der gerade in Münster gastierte. „Das Bedürfnis, sich miteinander auszutauschen und zu vernetzen, war besonders groß“, so das Resümee der Initiatorin.

Aus diesem Grund plant Franziska Trapp fest damit, das internationale Treffen im kommenden Jahr zu wiederholen. Wird sich ihr Wunsch, den Zirkus als Forschungsgegenstand an deutschen Hochschulen zu etablieren, irgendwann einmal erfüllen? „Das weiß ich natürlich nicht“, sagt Trapp mit einem Augenzwinkern. „Aber ich hoffe doch, dass ich in zwanzig Jahren einen Lehrstuhl für ­Zirkuswissenschaft habe.“