Die Familie, die ruiniert wurde

Ausstellung Dem Museum Pankow gelingt mit „Kein Mensch kennt dieses Versteck. Die Flucht der Unternehmerfamilie Schoening aus der DDR“ die Verknüpfung von politischer und persönlicher Geschichte

Uwe Schoening (Mitte) und seine Freunde Christian Buttkus (l.) und Jan Erichsen 1955 Foto: Museum Pankow

von Christina Steenken

Eigentlich waren die Handwerker in der Tschaikowskistraße 46 in Niederschönhausen nur auf der Suche nach einem unauffälligen Platz für den neuen Boiler. Doch hinter Putz und Blumentapeten machten sie einen ungewöhnlichen Fund: In einem Hohlraum in einer Zimmerwand fanden sie ein Versteck voll mit Speziallampen, Glühbirnen und Fotopapier, dazu eine Notiz. „Ich habe diese Wohnung im Oktober 1955 verlassen, weil das Finanzamt Pankow ungerechtfertigte Strafen von 2.400 Mark mir aufbürdet und mich Leute bedrohten, die mich ruinieren wollten --- und es auch geschafft haben.“

Unterschrieben ist der Brief nicht, dafür aber auf einem Firmenbogen verfasst – Lichtpaus- und Fotokopieranstalt Ed. Schoe­ning. Weiter heißt es: „Kein Mensch kennt dieses Versteck und ich bitte inniglichst alle Sachen an dieser Stelle zu belassen, da ich später einmal wieder in den Besitz der Sachen kommen möchte.“

Die Ausstellung „Kein Mensch kennt dieses Versteck“ im Museum Pankow rekonstruiert die Geschichte dieses Verstecks und porträtiert die Schicksale der damaligen Bewohner des Hauses Tschaikowskistraße 46, das sich 1955 noch in der unmittelbaren Nachbarschaft des Regierungsviertels der DDR befand.

Der Sabotage bezichtigt

Wer war der Verfasser des Briefs? Die Pankower Künstlerin Ursula Strozynski, die das Haus renovieren ließ, setzte sich nach dem Fund mit dem Museum Pankow an der Prenzlauer Allee in Verbindung und bat um Unterstützung bei der Aufklärung. Der Kurator Matthias Roch spürt intuitiv, dass sich hier eine außergewöhnliche Geschichte verbergen könnte: „Als ich zum ersten Mal eine schlechte Schwarz-Weiß-Kopie des Abschiedsbriefs in den Händen hielt, ließ mich das Ganze nicht mehr los. Ich spürte beim Lesen, unter welchem Druck der Autor des Briefs gestanden haben muss, auch aufgrund der fehlenden Unterschrift und der sprachlichen Flüchtigkeitsfehler.“

Es folgten intensive Recherchen, die der Besucher im Eingang der Ausstellung detailliert nachvollziehen kann. Über Adressbücher und Grundbücher öffnet sich der Weg zu einem Zeitzeugen: Uwe Schoening. Er ist der Sohn des Firmenbesitzers und hat als Zehnjähriger vor der Flucht 1955 beim Verstecken geholfen. Langsam setzt sich das Puzzle zusammen.

1955 war die Familie Schoening über Westberlin in die Bundesrepublik geflohen. Werner Schoening war als selbstständiger Betreiber der Lichtpaus- und Fotokopieranstalt mit dem Finanzamt Pankow in einen Konflikt geraten. Das Finanzamt warf ihm vor, Steuerabschlagszahlungen nicht rechtzeitig abgeführt zu haben. Existenzbedrohend wirkte aber ein weiterer Vorfall, bei dem die ­sogenannte Preisstelle ermittelte.

Deren Aufgabe war es damals, genehmigte Festpreise zu überwachen. Im Zuge der Ermittlungen stornierte das Patentamt – Schoenings größter Kunde – all seine Aufträge, was die Firma ruinierte. Der Sabotage bezichtigt, signalisierte man Schoening, dass er als Privatunternehmer in der DDR keine Existenzberechtigung habe, und verlangte von ihm, sich beim Amt für Erfindungs- und Patentwesen der DDR einzugliedern, was das Ende seiner Selbstständigkeit bedeutet hätte.

Wie viele andere Handwerker und Gewerbetreibende fühlte sich Schoening diskriminiert – und einige Belege in der Ausstellung können dokumentieren, dass er sein Geschäft gewissenhaft führte –, doch die private Industrie war der DDR ein Dorn im Auge. Auch in Pankow waren alle großen Industriebetriebe bereits enteignet und verstaatlicht worden, ehe auf der2. Parteikonferenz der SED vom 9. bis 12. Juli 1952 Ulbricht den „Aufbau des Sozialismus“ verkündete. Um einer drohenden Haftstrafe zuvorzukommen, bereitete sich die Familie Schoe­ning langsam auf die Flucht in den Westen vor und schaffte Kleidung und Unterlagen Stück für Stück über die Grenze.

Das Museum Pankow beleuchtet nicht nur die Fundgeschichte des Verstecks, die damalige Wirtschaftspolitik und -geschichte der DDR und damit die Gründe für die Flucht der Familie, sondern wirft den Blick gleichzeitig auch auf angrenzende Themen. Aufgrund der genauen Recherchearbeiten wird so auch an persönliche Schicksale der Flucht vor dem Mauerbau erinnert.

Die Wohnung Tschaikowskistraße 46, 1. OG, vor der Entdeckung des Verstecks 2013 Foto: Rainer Ahrendt

Denn neben der Geschichte der Berliner Unternehmerfamilie Schoening an sich – darunter Vorfahren, die als Kammerdiener bei Friedrich Wilhelm IV. dienten –, lernen die Ausstellungsbesucher auch die Lebensläufe der Spiel- und Schulkameraden von Uwe Schoening kennen, die mit ihm gemeinsam im Viertel gewohnt haben. Darunter zum Beispiel Christian Buttkus, der auf der Flucht nach Westdeutschland 1965 unweit des Stahnsdorfer Damms erschossen wurde.

Die bürgerliche Elite

Das Museum Pankow hat es mit Unterstützung der Stiftung Aufarbeitung geschafft, die 1950er Jahre in Pankow ins Licht zu rücken. Die Ausstellung ist ein gelungenes Beispiel, wie politische und wirtschaftliche Entwicklungen, die bisher wenig bekannt sind, regionalgeschichtlich und in bewegenden individuellen Lebensgeschichten erkennbar werden. Einfühlsam und mit einem guten Gespür für Details wird das Schicksal und das Milieu der Unternehmerfamilie Schoening dargestellt, die beispielhaft für die alte bürgerliche Elite in Pankow steht.

Auch der Bogen zwischen der Pankower Lokalgeschichte und der Gegenwart wird gewährleistet. Er entsteht beispielsweise dann, wenn Uwe Schoening von seiner Verlusterfahrung als Geflüchteter in Westdeutschland berichtet und so die Schicksale von damals und die Schicksale der vielen Geflüchteten von heute zusammentreffen.

Für den Kurator Matthias Roch ist die Entdeckung in der Tschaikowskistraße 46 ein wahrer Glücksfund: „Man denkt immer, man findet hier im sanierten Berlin nichts mehr, die Fassaden sind schön, die Wohnungen sind schön, die Dachböden sind gemacht, die Keller sind ausgeräumt, doch trotzdem verbirgt sich mancherorts noch ein Geheimnis. Ich möchte jedem Mut machen, sich mit seiner Haus- oder Familiengeschichte zu befassen: Jeder findet eine interessante Geschichte.“

Museum Pankow, Prenzlauer Allee 227/228: „Kein Mensch kennt dieses Versteck“, Dienstag bis Sonntag 10–18 Uhr, bis zum 23. April 2017