„Sich als Opfer widriger Lebensum-stände zu inszenieren, ist keine unübliche Strategie von Neonazis vor Gericht“

Das bleibt von der Woche Die taz wurde von Behinderten „freundlich übernommen“, im Prozess um den Brandanschlag auf eine geplante Flüchtlingsunterkunft in Nauen geben sich die Angeklagten unschuldig, Hertha will ein neues Stadion bauen, und die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen den Chef der Senatskanzlei, Björn Böhning, eingeleitet

Ein anderer Blickwinkel tut allen gut

taz mit Behinderung

Jetzt wird über Befindlichkeiten, Bilder und Vorurteile diskutiert. Großartig!

Es war eine freundliche Übernahme: Autorinnen und Autoren mit Behinderung haben am Donnerstag die taz übernommen. Die gesamte Freitagsausgabe, 24 Seiten stark, haben wir mit Unterstützung von Leuten aus der taz gestaltet. Herausgekommen ist ein hervorragendes Ergebnis. Alleine das Titelbild war es schon wert.

Ja, das ist wirklich etwas besonderes. In so einer Bandbreite ist es noch nicht vorgekommen, dass Menschen mit Behinderung so eine Möglichkeit hatten, sich zu den verschiedensten Themen zu äußern. Für uns alle war das eine ganz wichtige Erfahrung. Aber nicht nur für uns. Auch die Kolleginnen und Kollegen der taz haben dadurch einen ganz anderen Blickwinkel bekommen. Und auch bei den Leserinnen und Leser wird sich die Perspektive verschieben, da bin ich mir sicher.

Die Zeitung ist ja noch frisch. Ich habe schon mal ein bisschen geschaut, was für Diskussionen auf Facebook laufen. Auch in meinem E-Mail-Postfach sind schon einige Reaktionen angekommen. „Muss das denn sein?“, hat jemand gefragt. Da wird über Befindlichkeiten, Bilder und Vorurteile diskutiert. Großartig! Genau das ist es, was wir erreichen wollten.

Schön gefunden hätte ich, wenn es mehr Autorinnen und Autoren gegeben hätte, die auch andere Themen ins Blatt gebracht hätten. Jetzt drehen sich die Texte fast ausschließlich um das Thema Behinderung. Das Tagesaktuelle hätte von Profis mit Behinderung gestaltet werden müssen, die zum Beispiel auch etwas über den ­Syrienkrieg hätten schreiben können. Das zu organisieren war auf die Schnelle aber nicht möglich.

Fazit: Großes Lob an alle und noch mal Dank an die taz: Die Zusammenarbeit war derart freundlich, offen und professionell. Annton Beate Schmidt

Alles, nur nicht rechtsextrem

Neonazi-Prozess

Schneider will allein für den Brandanschlag verant­wortlich sein

Eins fällt auf in der zweiten Prozesswoche gegen den NPD-Funktionär Maik Schneider und fünf weitere Angeklagte: Die politische Gesinnung der mutmaßlichen Täter spielt vor Gericht keine Rolle. Zur Last gelegt wird ihnen die „Bildung einer kriminellen Vereinigung mit dem Ziel, Straftaten mit ausländerfeindlichem Hintergrund zu begehen“.

Doch von einer kriminellen Vereinigung ist am Dienstag keine Rede. Schneider, als Rädelsführer angeklagt, will allein für den Brandanschlag auf die Nauener Turnhalle verantwortlich sein. Dem Verfassungsschutz seit zehn Jahren als „Rechtsextremist mit gefestigtem rassistischem Weltbild“ bekannt, inszeniert sich Schneider als harmloser Lokalpolitiker mit sozialer Ader. Den Brandanschlag bezeichnet er als „Unfall“ – sich selbst als „ausgesprochen links“. Alle anderen Anklagepunkte streitet er ab.

Die Mitbeschuldigten stellen sich als unpolitisch, aber beeinflussbar dar; als Mitläufer, die für Anerkennung bereit sind, alles zu tun. Einzelne Punkte gestehen sie – aber eine rechte Zelle soll es nie gegeben haben. Stattdessen: Spontane Straftaten von Einzeltätern, im Rausch oder aus Wut über die eigenen Lebensverhältnisse begangen.

Schneider tauscht sich mit seinen Komplizen aus, fixiert den hinter ihm sitzenden Christian B. mit Blicken; der nimmt daraufhin prompt sein Geständnis zurück. Zuvor hatte er Schneider als Kopf hinter der Planung des Anschlags belastet. Der Richter unterbindet diese Beeinflussungsversuche nur zögerlich; auch die politische Gesinnung der weiteren Angeklagten scheint ihn wenig zu interessieren.

So zerfällt die Serie von rechten Übergriffen, die der Nauener Bürgermeister als „Terror“ bezeichnet, zu einer Anhäufung geradezu willkürlicher kleinkrimineller, jedenfalls nicht rechtsextrem motivierter Straftaten.

Sich als Opfer widriger Lebensumstände zu inszenieren, ist keine unübliche Strategie von Neonazis vor Gericht. Sozial benachteiligt sind viele. Allein: Die einen zünden Turnhallen an, die anderen kanalisieren ihren Frust anders.

Elisabeth Kimmerle

Fußballklub mit Gedächt- nisverlust

Hertha will umziehen

Hertha, du spinnst mal wieder: Ein paar Niederlagen würden dir gut tun!

Es gibt kaum einen größeren Gegensatz als den zwischen dem derzeitigen Fußballbundesligisten Hertha BSC und dem, was ­gemeinhin der „olympische Geist“ (oder neudeutsch spirit) genannt wird, also das Motto „Dabei sein ist alles“. Dass man im Sport also verlieren kann, und dass das nicht so schlimm ist.

Hertha weiß nur allzu gut, dass zum Fußball die Niederlage gehört, und nicht nur eine: 2010 und 2012 stieg das Team aus der ersten Liga ab. Das ist noch gar nicht so lange her.

Die Hertha-Führung scheint allerdings unter Gedächtnisverlust zu leiden und die dunklen Zeiten – die es seit Mitte der 90er immer wieder gab –, verdrängt und vergessen zu haben. Wie sonst ist es zu erklären, dass der Verein, der für seine Heimspiele das rund 75.000 Menschen fassende Olympiastadion nutzt, eine Debatte über einen Stadion-Neubau losgetreten und am Montag, bei der Mitgliederversammlung, noch mal bekräftigt hat: „Wir müssen Alternativen prüfen“, sagte da Aufsichtsratschef Bernd Schiphorst, „egal, ob in Berlin oder im Umland.“

Offenbar haben die Klubchefs auch vergessen, dass über das gleiche Thema erst vor wenigen Monaten lang und breit diskutiert wurde, als es um die Verlängerung des Mietvertrags fürs Olympiastadion ging. Auch da war schon klar: Selbst wenn die Sehnsucht nach einer reinen Fußballarena, die vielleicht etwas kleiner und deswegen immer voll ist, berechtigt sein mag, bleibt eins völlig unklar: Wer so verrückt sein soll, einem zwar aktuell erfolgreichen (Platz 3), aber in der Vergangenheit eher schwankenden Team Geld für einen Hunderte Millionen Euro teuren Neubau zu geben?

Nun ist die Debatte noch absurder geworden: Da innerhalb Berlins der Platz eng geworden ist, überlegt die Vereinsführung allzu laut, in Brandenburg neu zu bauen. Auf Berlinerisch also jwd. Die Fans müssten sehr wahrscheinlich weiter fahren; zudem ist das Umland wie sich deutlicher zeigt, nur ungenügend mit der Bahn an Berlin angebunden. Ein Chaos á la BER wäre vorprogrammiert.

Und das alles nur, weil der Klub nicht mehr im schönen, aber zu weiten und deswegen unterkühlten Olympiastadion spielen will? Das zudem erst vor einem Jahrzehnt für Hunderte Millionen Euro denkmalgerecht und ausgerechnet für eine Fußball-WM hergerichtet wurde? Hertha, du spinnst mal wieder: Ein paar Niederlagen würden dir gut tun. Bert Schulz

SPD belastet die neue Koalition

Böhning im Visier

Einzig die Linke ist bislang unfallfrei durch die Nach­-wahlzeit manövriert

Es ist noch nicht lange her, da haben sich die Sozialdemokraten noch gefragt, ob die Grünen eigentlich regierungsfähig seien. Ein paternalistischer Gestus, der längst von der Wirklichkeit eingeholt wurde. Kaum war die Wahl gelaufen, lieferten sich der Regierende Bürgermeister Michael Müller und Fraktionschef Raed Saleh einen Machtkampf, der sich gewaschen hatte. Am Donnerstag dieser Woche nun gab die Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie Ermittlungen gegen den Chef der Senatskanzlei, Björn Böhning, eingeleitet hat.

Es geht um Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung, denn neben Böhning wird auch gegen die Unternehmensberatung McKinsey ermittelt. Hintergrund ist die Vergabe eines Auftrags im Jahre 2015 in Höhe von 238.000 Euro. McKinsey sollte dafür einen „Masterplan Integration und Sicherheit“ für die Senatskanzlei erarbeiten. Zuvor hatte das Unternehmen bereits unentgeltlich für die Behörde von Böhning gearbeitet.

Pikant dabei: Nachdem McKinsey den Auftrag erhalten hat, engagierte das Unternehmen den früheren SPD-Staatssekretär Lutz Diwell für ein Honorar von 33.750 Euro. Während die CDU von „erheblichen Vorwürfen“ spricht, teilte Böhnings Anwalt Marcel Kelz mit: „Es gibt keinen Skandal, sondern allenfalls verschiedene rechtliche Bewertungen zu einem öffentlich bekannten Sachverhalt.“

Tatsächlich hatte die Staatsanwaltschaft acht Monate gebraucht, um die Ermittlungen einzuleiten. Zwar bestreitet Noch-Justizsenator Thomas Heilmann (CDU), Druck auf die Ermittler ausgeübt zu haben. Doch der Zeitpunkt kommt der SPD extrem ungelegen. Am Donnerstag soll Michael Müller als Regierender Bürgermeister wiedergewählt werden. Und am Dienstag will er die Namen der Staatssekretäre bekannt geben. Sollte er Böhning für nicht mehr tragfähig halten, würde das ganze Personalkarussell bei den Sozialdemokarten nochmals ins Rutschen kommen.

Ein guter Start sieht anders aus. Aber auch die Grünen haben sich mit der Nominierung ihrer Verkehrs- und Umweltsenatorin nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Einzig die Linke ist bislang unfallfrei durch die Nachwahlzeit manövriert. Aber die Linken haben ja noch einen Mitgliederentscheid am Laufen. Uwe Rada