Wie mich einmal eine Weihnachtsmarkt-Krise umgeworfen hat
: Die Tipi-Lounge

Foto: privat

AM RAND

Klaus Irler

In Niendorfs Fußgängerzone stehen neuerdings zwei Tipis. Die Tipis sind braun, bestimmt vier Meter hoch und stehen auf Rindenmulch, der auf das Pflaster gekippt worden ist. Um die Laternenmasten in der Nähe wurden Nadelbäume gebunden und vor den Tipis sind Tische aus Holz. Die Tipis sind zusammenhängend begehbar und heißen offiziell „Tipi-Lounge“. Sie sind ein Teil des „Nordischen Weihnachtsmarktes“, den es jedes Jahr in Niendorf gibt.

Ich trank in einem der Tipis gerade missmutig meinen zwölften Glühwein, als sich Häuptling Goldene Nase zu mir gesellte. „Darf ich?“ fragte Goldene Nase und der gewaltige Kopfschmuck wackelte im Schein der Petroleumlampe, die auf dem Tisch stand.

Ich machte Platz und Häuptling Goldene Nase sagte zu mir: „Sieh’s doch mal positiv. Wir Kiowa-Indianer haben gar kein Problem damit, dass ihr die Tipis kopiert, aus dem Zusammenhang reißt und Kohle damit macht. Wir feiern auch X-Mas. Also die Jüngeren unter uns. Nimm’s locker.“ Aber ich schnaubte nur und sagte: „Das hier ist nur Disneyland! Hohl, scheiße und kommerziell!“

Häuptling Goldene Nase lies nicht locker. „Hier am Stadtrand ist der Weihnachtsmarkt noch entspannt. Schau Dir die Innenstadt an: Von Ottensen bis St. Georg gehen die Märkte nahtlos ineinander über. Du weißt gar nicht mehr, auf welchem Markt Du gerade bist. Nur bei Dir in Niendorf ist der Markt noch begrenzt auf die Fußgängerzone. Und um 22 Uhr ist Schluss!“

Ich machte „Hmpf!“ und wollte bemerken, wie schlecht mir gerade wird von der fettigen Champignon-Pfanne, dem Amaretto-Crêpe, der Salami-Pizza, den Poffertjes, der Thüringer Bratwurst und dem zwölften Glühwein, da sagte Häuptling Goldene Nase: „Ihr Bleichgesichter braucht auch mal Urlaub vom Leben. Ihr müsst auch mal über die Stränge schlagen dürfen. Ständig jede Kalorie zählen, das geht doch nicht! Freu’Dich! Trink noch einen!“

Langsam ging mir der Häuptling auf die Nerven. Mit glasigen Augen fixierte ich die Haare unter seinem Kopfschmuck und wollte gerade fragen, ob er eine Perücke trug. Da sagte er: „Weihnachtsmärkte sind für Euch Bleichgesichter doch so etwas wie ein Ausflug in die Kindheit. Heile Welt, deutsche Romantik, Fachwerk, gemauerte Hütten, Indianer-Tipis. Wieso nicht? Da vorne gibt’s Wiener Mandeln!“

„Wiener Mandeln“, lallte ich, „auf einem nordischen Weihnachtsmarkt!“ Mein Zeigefinger schnellt nach oben, was mir kurz das Gleichgewicht raubte. Ich hielt mich am Stehtisch fest und als ich wieder aufschaute, kamen vier Leute mit rot-weißen Mützen in das Tipi und drängten sich an unseren Tisch. Die Leute schrien „Ho, Ho, Ho“ und setzten mir ein künstliches Elchsgeweih auf den Kopf. Dabei klatschte mir eine Ein-Meter-Bratwurst ins Gesicht und ich ging in die Knie. Mein Mageninhalt ergoss sich in den Rindenmulch.

Ich kroch nach draußen und hoffte, dass Häuptling Goldene Nase mit einem Pferd auf mich warten würde. Aber der Häuptling war weg. Stattdessen stand ein Weihnachtsmann mit einem Rentierschlitten in Cremeweiß vor mir. Gegen eine Gebühr von 9,80 Euro brachte er mich nach Hause.