Bilder zum Reinkriechen

Moderne Er war Sammler und Förderer der französischen Avantgarde: Sergei Iwanowitsch Schtschukin. Jetzt ist seine einmalige Sammlung in Paris ausgestellt

Aus Schtschukins Sammlung: Georges Braques, „Le Château de la Roche-Guyon“, 1909 Foto: Abb.: Fondation Vuitton

von Annabelle Hirsch

Aus politischer Sicht fällt ­„Icônes de l’art moderne. La collection Chtchoukine“, eine der meistbesprochenen, meistbeklatschten und schon jetzt meistbesuchten Ausstellungen des Pariser Kunstherbstes (allein am Eröffnungssonntag kamen 10.000 Besucher), in das diplomatische Loch, das seit knapp vier Wochen zwischen Frankreich und Russland klafft und so manch einen Kommentator zu „Kalter Krieg“-Assoziationen verleitet. Wo ursprünglich Wladimir Putin und François Hollande hätten stehen sollen, um die herausragende Zusammenarbeit der Pariser Fondation Louis Vuitton, der St. Petersburger Eremitage und des Moskauer Puschkin-Museums mit einem Händeschütteln zu besiegeln, bleibt der Platz leer. Allerdings vermisst man die beiden Staatschefs in Anwesenheit dieser wahrhaftigen Größen, der Meister der französischen Avantgarde, kein bisschen und kann André Marc Delocque-Fourcaud nur zustimmen, wenn er stolz verkündet: „Cette exposition c’est l’histoire d’un miracle!“

Un miracle, also ein Wunder, ist diese Ausstellung tatsächlich. Nicht nur, weil den Organisatoren während des mehrjährigen bürokratischen und politischen Marathonlaufs nicht die Puste ausgegangen ist, sondern vor allem, weil sie über die Kunst, über diese knapp 130 Werke seiner Sammlung, einen Mann vorstellt, der zu lange in Vergessenheit geraten war: Sergei Iwanowitsch Schtschukin.

Eine russische Geschichte

Sicher, wer sich einmal eindringlich mit Matisse oder Picasso beschäftigt hat, wird über seinen Namen gestolpert sein, einem breiteren Publikum bleibt er allerdings weitgehend unbekannt. Die Geschichte spielte darin ihre Rolle, die Beschlagnahmung der Sammlung durch die Bolschewiken, ihre Zerschlagung und Verteilung auf die Eremitage und das Puschkin-Museum unter Stalin, und das traurige Los der Meisterwerke, die bis zum Tod des Diktators als bourgeoise, degenerierte Kunst verboten und verborgen blieben.

Dabei kann man Schtschukins Rolle sowohl für die Entwicklung der französischen als auch für die der russische Avantgarde kaum überschätzen – auf der einen Seite als anspruchsvoller Förderer (Picasso fand ihn höchst ermüdend), auf der anderen als Botschafter der Pariser Modernisten in Moskau: „Unter den Künstlern der russischen Avantgarde hatte sich die Ansicht verbreitet, dass die große Schule der Kunst nicht mehr die Akademie der Künste in St. Petersburg war, sondern die Galerie von S. I. Schtschukin“, schrieb der Maler Iwan Kljun. Auch Malewitsch verbeugt sich in seinen Schriften wiederholt vor diesem Mann, der auf die Meinung der guten Gesellschaft pfeift.

Tatsächlich zeigte sich Schtschukin mutig und standhaft gegenüber den teils scharfen Angriffen der Moskauer Elite. Angesichts seiner Monets und Cézannes und Gauguins und noch mehr beim Anblick seiner Matisses und Picassos befand die, dass dieser gewiefte Textilunternehmer mit seinen künstlerischen Neigungen nicht nur seinen schlechten Geschmack beweist, sondern sicher gerade seinen Verstand verliert, wenn er bereit ist, sein Geld für diesen augenschmerzenden Mist aus dem Fenster zu werfen.

Ein empörter Besucher soll, während der ab 1908 jeden Sonntag stattfindenden Touren im Trubetskoi-Palast, sogar einen Monet beschmiert haben, so unerträglich war ihm der Anblick. Hier, in der Fondation Vuitton, treffen die Werke über ein Jahrhundert später auf nichts als Wohlwollen und Begeisterung.

Schtschukin, dieser kleine, stotternde Mann, von dem Picassos erste Gefährtin behauptete, er habe das Gesicht eines Schweins, bewies einen untrüglichen Instinkt. Schon allein der Auftakt im unteren Geschoss mit Cézannes Selbstporträt von 1882, von dem Malewitsch meinte, es sei überhaupt das beste des Meisters, ist umwerfend lebendig. Aus den vielen Monets im Folgeraum strahlt einem der Sommer entgegen, reinkriechen möchte man in die Bilder.

Seine zweite große Liebe

Der wirft sein Geld zum Fenster raus, dachte die Moskauer Elite, als Sergei Iwanowitsch Schtschukin begann, Monet, Picasso, Cézanne, Matisse zu kaufen

Die Ausstellung entwickelt sich in dem von Daniel Buren temporär bunt verkleideten Frank-Gehry-Bau ähnlich wie in Sergei Schtschukins Palast: Vom „Einfachsten“ zum „Krassesten“, von den Impressionisten zu Picasso. Dem hatte der Sammler ein eigens Kabinett gewidmet, in das er, so hört man von Anne Baldessari, Kuratorin der Ausstellung und ehemalige Leiterin des Picasso-Museums, nur jene Besucher ließ, die beim Anblick der vorherigen Werke nicht ihre Contenance verloren.

Vielleicht, weil der Sammler seinem Publikum nicht zu viel zumuten wollte, vielleicht aber auch, weil er sich mit dem Spanier selbst etwas schwertat. Seinen ersten Picasso, die „Frau mit Fächer“, soll er über viele Wochen in einen Flur verbannt haben. Dort besuchte er die Dame immer wieder, bis er bei ihrem Anblick nicht mehr das dumpfe Gefühl empfand „Glassplitter in seinem Mund zu zermalmen“.

Picasso wurde seine zweite große Liebe, seine erste war Matisse. „Henri Matisse war sein Mentor“, sagt Anne Baldessari. Die Begegnung mit dessen leuchtenden Interieurs und Stillleben war für Schtschukin ein Wendepunkt, er kaufte 36 Matisse innerhalb von sechs Jahren, darunter das eigens für den Sammler angefertigte, heftig umstrittene „La Danse“ von 1909.

Nach einem Rundgang durch die fünf Galerien der „Icônes de l’art moderne“ steht fest: Schtschukin war ein visionärer Sammler. Dass er in Russland auch als genialer Geschäftsmann gilt, wird Bernard ­Arnault sicher betört haben, einen gewissen Identifikationsfaktor dürfte der LVMH-Chef nicht verneinen. Und warum auch nicht. Wo man der Fondation Louis Vuitton sonst gerne vorwirft, sich dank erheblicher finanzieller Mittel massentaugliche Blockbuster-Ausstellungen zusammenzukaufen, die sich kein öffentliches Museum leisten könnte, muss man hier schon besonders miesepetrig sein, um sich nicht darüber zu freuen, dass Paris eine Institution vorzuweisen hat, die eine solche Ausstellung wahrmachen kann. Die muss gesehen werden, das lange Anstehen wird sich lohnen!

Bis 20. Februar: „Icônes de l’art moderne. La collection Chtchoukine“. Fondation Vuitton, Paris, Katalog 49,90 Euro