Berliner Szenen
: Wir Überlebenden

Einschläge

Ich blicke hoch in die Augen meiner zukünftigen Witwe

Ein ehemaliger Mitschüler hält bei meinem Abijahrgang die organisatorischen Fäden in der Hand. Leiert Klassentreffen an, zu denen ich wegen der großen Entfernung in der Regel nicht erscheine, oder schickt Rundmails, wenn sonst etwas Besonderes passiert sein sollte.

Am Sonntagmorgen trifft eine dieser seltenen Mails ein. Im Betreff steht nur ein Name, der Name eines Mitschülers, sonst nichts. Mir schwant nichts Gutes. Die Nobelpreise sind für dieses Jahr meines Wissens alle schon verteilt. Also kann die Mail im Grunde nur noch eins bedeuten.

Und so ist es. Traurige Mitteilung. Unser Mitschüler. XY. Am Freitag. Kurze schwere Krankheit. Und so weiter.

Ich blicke hoch und über den Rand meines Laptops in die Augen meiner zukünftigen Witwe und murmle: „Die Einschläge rücken näher.“ Was man eben in meinem Alter an hausbackenen Floskeln so benutzt, als wolle man sich und der Welt damit auch noch mit aller Macht beweisen, wie nahe die Einschläge tatsächlich rücken. Der Mitschüler ist nicht der erste, aber fast. Und die anderen bisher waren Unfälle. Keine Krankheiten. Doch jetzt geht das wohl los.

Ich stelle mir vor, wie zur selben Zeit an sechzig oder achtzig – oder wie viele wir im Jahrgang damals waren – Frühstücks­tischen gleichzeitig dieselbe früh vergreiste Plattitüde mantraartig aufgesagt wird: Die Einschläge rücken näher. Das letzte Hemd hat keine Taschen. Abendstund hat Wurm im Mund. Wir Überlebenden ducken uns dicht aneinandergedrängt in ­einen imaginären Schützengraben aus weichen Worthülsen, der keinen echten Schutz bietet. Allenfalls vor Schnupfen oder wenn man mit dem kleinen Zeh am Bettpfosten hängen bleibt. Aber nicht vor Herzinfarkt, Krebs und Schlaganfall. Das ist die Artillerie, und gegen die helfen Helm und Schützengraben wie Globuli gegen die Pest.

Uli Hannemann