Hotspot Lampedusa: Stille über dem Hafen

Lange war die Insel vor Sizilien das Zentrum der europäischen Flüchtlingskrise. Wie sieht es dort heute aus? Ein Ortstermin.

Mehrere Männer in goldfarbene Wärmefolien eingehüllt steigen bei Dunkelheit in einen Bus

In der Nacht vom 27. auf den 28. August 2016: Von der italienischen Küstenwache gerettete Flüchtlinge werden in den Hotspot von Lampedusa gebracht Foto: imago stock/Zuma press

LAMPEDUSA taz | „Flüchtlinge?“ Ein ironisches Lächeln liegt auf Nino Tarantos Lippen. „Immer wieder fragen mich Touristen nach den Flüchtlingen. Und sie schauen einigermaßen erstaunt, wenn ich ihnen sage, dass wir Flüchtlinge mittlerweile öfter im Fernsehen sehen als hier auf Lampedusa.“

Antonino Taranto, pensionierter Architekt, ist Herz, Seele und Präsident des „Historischen Archivs Lampedusa“, seit vielen Jahren sammelt er alles, was mit der Inselgeschichte zusammenhängt. Das Archiv betreibt ein kleines Museum, das sich in einem weiß getünchten Bau am Ende der Via Roma befindet, der Lebensader des Ortes Lampedusa. Nur ein paar Meter weiter liegt der „Belvedere“, die große Terrasse, die einen Blick auf den Hafen unten und die Mole bietet, wo die Ankünfte der Flüchtlinge abgewickelt werden.

„Haben Sie etwa welche auf der Via Roma gesehen?“, fragt Taranto noch einmal nach und rückt seine große Brille zurecht. Nur wenige Menschen sind in der Fußgängerzone unterwegs. Einige Inselbewohner nehmen ihren Espresso am Tisch vor der Bar ein, einige tief gebräunte Nachsaison-Touristen schlendern an den Schaufensterauslagen vorbei, die Naturschwämme und Badehosen anbieten. Lampedusa schickt sich in diesen späten Oktobertagen an, nach dem Sommertrubel in den Winterschlaf zu fallen.

Wechselreiche Geschichte

Taranto hat recht, unter den Menschen auf der Straße ist niemand zu sehen, der aus Eritrea, Nigeria oder Nordafrika zu kommen scheint. Mit einer kleinen Ausstellung, mit Publikationen und Vorträgen macht der nur von seinen Mitgliedern getragene Verein des Archivs mit der wechselreichen Inselgeschichte bekannt. Phönizier, Griechen, Römer, Sarazenen, später dann Malteser und Italiener hinterließen hier ihre Spuren. Lampedusa war immer eine „Insel der Begegnung“, sagt Taranto und schlägt einen Bogen zur Gegenwart, zur Begegnung mit den Flüchtlingen, die hier zum ersten Mal den Fuß auf europäischen Boden setzen. Oft genug kamen sie auch im Archiv vorbei, Taranto improvisierte Hilfe, kaufte dem einen ein Paar Schuhe, stellte dem anderen den Computer zur Verfügung, organisierte auch Sprachkurse. „Doch jetzt finden diese Kontakte kaum noch statt“, sagt er, Bedauern in der Stimme.

Völlig anders als im Herbst 2013 zeigt sich Lampedusa heute: Damals, kurz nach der Tragödie vom 3. Oktober, als 368 Menschen direkt vor der Küste Lampedusas ertranken, fanden sich überall im Ort Dutzende Eritreer oder Syrer auf der Via Roma, saßen in Grüppchen auf den Steinbänken, an der Mole oder in den Straßencafés. Jetzt sind die Flüchtlinge wie vom Erdboden verschluckt.

Geblieben sind die Uniformträger. Man sieht sie in ihren Einsatzfahrzeugen, trifft sie in den Bars: Polizisten, Carabinieri, Beamte der Guardia di Finanza oder der Küstenwache. Vor dem „Aragosta“, dem Restaurant am Hafen, das guten Fisch zu kleinen Preisen bietet, fahren jeden Mittag, jeden Abend ganze Mannschaftswagen vor, die hungrige Beamte ausladen.

Nicht sehr gesprächig zeigt sich der athletische Polizist mit Bürstenfrisur, der an der Tür eine Zigarette raucht. Ja, er ist im „Hotspot“ im Einsatz, und nein, zu den Verhältnissen dort darf er nichts sagen.

Militärisches Sperrgebiet

Hotspot: Seit einigen Monaten wurde das Flüchtlingsaufnahmezentrum in ein Identifizierungszentrum umgewidmet, das von Frontex und den italienischen Behörden gemeinsam betrieben wird. Hier werden den Migranten die Fingerabdrücke abgenommen, hier versucht man ihre Herkunft festzustellen, ehe sie auf Einrichtungen in anderen italienischen Regionen verteilt werden, wo sie auf ihr Asylverfahren oder ihre Abschiebung warten.

Ganz allein an seinem Tisch im „Aragosta“ sitzt ein eleganter älterer Herr mit grau melierten Haaren. Er ist Eritreer und Dolmetscher für Frontex, seit zwei Monaten nun auf Lampedusa im Einsatz, gibt er bereitwillig Auskunft. Gleich nach dem Abendessen müsse er wieder los, gegen 23 Uhr werde ein Schiff der Küstenwache mit Hunderten Menschen an Bord erwartet.

Mit hoher Geschwindigkeit nähert sich das Boot der Hafeneinfahrt, fährt mit Blaulicht und eingeschalteten Scheinwerferbatterien die am hintersten Ende des Hafens liegende Mole an. „Militärisches Sperrgebiet“ verkündet ein Schild am Tor im Maschendrahtzaun, nur autorisiertes Personal hat hier Zutritt. Im Halbdunkel sieht man die Menschen von Bord gehen, alle setzen sich, eingehüllt in goldglänzende Aluminiumfolien, erst einmal auf den Kai. Wenige Minuten später fährt ein Bus vor, 60 der Flüchtlinge steigen schweigend ein, müde und abgespannt sind ihre Gesichter, meist afrikanische. Stille liegt über dem Hafen, routiniert läuft die Prozedur, die praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgt. Nur zwei italienische Touristen und eine deutsche Pressefotografin haben sich an die Mole verirrt.

Auf dem Seeweg kamen im Jahr 2016 bisher 157.000 Flüchtlinge und Migranten. 2015 waren es insgesamt 154.000 Menschen. Im Mittelmeer starben dieses Jahr bereits 3.940 Menschen – mehr als je zuvor. Die meisten Ankommenden stammen aus Nigeria, Eritrea, Sudan oder Gambia. Sie werden in der Regel nahe der libyschen Küste gerettet und nach Sardi­nien oder zu den fünf italienischen Hotspots gebracht. Vier von ihnen befinden sich auf Sizilien, eines auf Lampedusa. Dort treffen deutlich weniger Geflüchtete ein als in den Vorjahren.

Kein Zutritt zum Camp

So laufe das jetzt eigentlich immer, sagt Marta Bernardini am nächsten Morgen. Sie selbst war am Vorabend auf der Mole, hat die Migranten mit Wasser versorgt, mit vielen kurz gesprochen. Bernardini arbeitet für die kleine unabhängige Hilfsorganisation „Mediterranean Hope“, die von der italienischen Waldenserkirche ins Leben gerufen wurde. Zusammen mit drei Kollegen ist sie seit zwei Jahren fest auf Lampedusa, vor allem als Beobachtungsteam verstehen sie sich, aber auch als Anlaufstelle für die Flüchtlinge, die zum Beispiel von ihrem Internetpoint oft den ersten Kontakt zu ihren Familien in der Heimat aufnehmen können.

Nach monatelangen Auseinandersetzungen mit den Behörden hat Mediterranean Hope sich jetzt das Recht erstritten, mit ihren Mitarbeitern bei Eintreffen der Schiffe der Küstenwache auf der Mole präsent zu sein. Meist laufen die Schiffe der Küstenwache und der Marine inzwischen zwar direkt Sizilien an, doch mit seinem Hotspot, in dem etwa 500 Flüchtlinge untergebracht sind, ist auch Lampedusa weiterhin ein Ziel.

Zugang zur Mole hat Bernardini zwar, doch auch sie darf den Hotspot nicht besuchen. Nur das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und „Save the Children“ haben dort Zutritt. „Deren Mitarbeiter treffen wir ab und an auf der Mole, aber sie erzählen nichts“, erzählt Marta Bernardini. „Sie unterliegen der Schweigepflicht.“ Wie Nino Taranto spricht sie von zwei Parallelwelten, die einander kaum noch berühren: die der Flüchtlinge, die nachts geräuschlos ins Camp gebracht werden, ohne je Einheimische zu treffen, und die der Lampedusaner, die im Alltag nur noch selten den Menschen aus Afrika oder Asien begegnen.

Fundstücke von den Booten

Gemeinsam mit anderen Inselbewohnern hat Bernardini das „Forum solidarisches Lampedusa“ ins Leben gerufen, Treffpunkt für Menschen, die weiterhin helfen wollen. Leute wie Francesca Del Volgo. Die 30-Jährige ist bei der kleinen Kulturvereinigung Askavusa aktiv, wenn sie nicht gerade ihr Geld an der Kasse einer Bar am Hafen verdient. Ihre Gruppe hat in einer alten Höhle, in der früher die Fischer ihre Netze flickten, direkt am Wasser ein kleines Museum aufgebaut. Seine Exponate sind Fundstücke von den Flüchtlingsbooten, Briefe, Audiokassetten mit arabischer Beschriftung, Gebetsketten, Zahnbürsten, Blechtöpfe.

Aus der „Insel der Aufnahmebereitschaft“ sei die „Bühne Lampedusa“ geworden, meint Del Volgo enttäuscht. Gut für Gedenkveranstaltungen wie mit dem Staatspräsidenten am Jahrestag des Unglücks von 2013. Auch bei Askavusa kommen kaum noch Flüchtlinge vorbei. Doch die wenigen, die sich – durch ein Loch im Zaun – aus dem Lager herauswagen, liefern präzise Informationen. Von überfüllten Schlafsälen, billigen Schaumstoffmatratzen, die das ideale Umfeld für Krankheitskeime bilden, von schlechtem Essen und öden Tagen im Camp.

Vergleichsweise paradiesisch

Rawlings will das so nicht stehen lassen. Der junge Nigerianer ist seit gut zwei Wochen auf der Insel, und anders als die meisten, die nur wenige Tage da sind und sich kaum raustrauen, weil sie noch orientierungslos sind, kommt er jeden Tag an den Strand, mit zwei Landsleuten und einem Libyer. „Wir sind gute Freunde“, sagt er, und es klingt, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen, doch dann ergänzt er, „wir haben uns auf dem Schlauchboot kennengelernt“. So wie die meisten wurden sie vor der libyschen Küste gerettet, so wie mittlerweile alle trafen sie mit einem Schiff der Küstenwache auf Lampedusa ein, bei Nacht.

Am Camp hat Rawlings nichts auszusetzen. Das Essen? Tadellos. Die Schlafsäle? „Zehn Tage habe ich wie ein Baby geschlafen“. Die Polizisten? „Perfekt ausgebildet. Die schlagen nicht zu, sie deeskalieren, wenn es Auseinandersetzungen gibt.“ In Nigeria, in Libyen hat Rawlings ganz andere Erfahrungen gemacht – schnell wird klar, weshalb ihm der Hotspot fast paradiesisch vorkommt.

Und noch erscheint ihm auch Italien als Paradies, obwohl mittlerweile zwei Drittel der Asylgesuche abgelehnt werden. Gerade hebt ein Flugzeug vom auf der anderen Seite der Bucht gelegenen Flughafen ab. „Morgen sitzen wir da drin“, sagt Rawlings mit leuchtenden Augen. „Dann gehe ich nach Rom und beginne dort ein neues Leben.“

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