Bundespräsident fordert mehr „Entängstigung“

Reformation Gauck warnt anlässlich des Luther-Jubiläums vor „Gnadenlosigkeit“ in Internetforen

„Es macht sich ein Ungeist der Selbstgerechtigkeit breit“

Joachim Gauck, Bundespräsident

BERLIN taz | Zum Auftakt des Gedenkjahres für den Beginn der Reformation vor 500 Jahren haben Papst Franziskus und Bundespräsident Joachim Gauck die Bedeutung des Reformators Martin Luther hervorgehoben – ebenso wie den Wert der Freiheit und der Gnade im Zusammenleben. Im schwedischen Lund feierte Franziskus als Oberhaupt der katholischen Weltkirche einen Gottesdienst mit führenden Köpfen des Lutherischen Weltbundes – ein historisches Ereignis. Gauck sprach auf einem staatlichen Festakt zur Eröffnung des Reformationsjubiläums im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin.

Der Expfarrer Gauck betonte in seiner Rede: Das Verlangen nach demokratischer Teilhabe habe eine seiner Wurzeln im reformatorischen Mündigwerden: „Es ist ein kostbares Erbe.“ Zum Drang nach Freiheit, einem Kern der Reformation, gehöre aber auch die Selbstbindung an ein Gewissen – egal, ob jemand gläubig sei oder nicht. „Diese Bindung ans Gewissen macht frei – frei zu einem selbständigen, verantwortlichen, gewissenhaften Leben.“

Das heutige Deutschland sei „nicht denkbar ohne die Reformation“, so Gauck. Auch wegen des durch sie geförderten Buchdrucks sei die Kultur Europas „eine Kultur des Buches, des Wortes, der Schrift“. So sei eine wichtige Grundlage gelegt worden „für Vernunft und rationale Durchdringung der Welt“.

Der Bundespräsident mahn-te, die Gesellschaft solle den für den Reformator so wichtigen Begriff der Gnade hochhalten. Es mache sich aber in der deutschen Gesellschaft etwa in Internetforen „ein Ungeist der Gnadenlosigkeit breit, des Niedermachens, der Selbstgerechtigkeit und Verachtung“, „der für uns alle brandgefährlich ist“. So wie Luther durch die Hoffnung auf die Gnade Gottes seine Angst verloren habe, brauche auch die heutige Zeit voller Ängste „Agenten der Entängstigung“. Auch der Berliner Bischof Markus Dröge hatte zuvor in einem Festgottesdienst zum Jubiläum in Berlin dazu aufgerufen, der „Voraus-Angst“, die manche in der Gesellschaft verbreiteten, ein „Voraus-Vertrauen“ im Sinne der Reformation entgegen zu stellen.

Papst Franziskus gedachte vor dem Abflug nach Lund der „Ökumene des Blutes“: „Wenn Christen verfolgt und ermordet werden, werden sie ausgesucht, weil sie Christen sind, nicht weil sie Lutheraner, Calvinisten, Anglikaner, Katholiken oder Orthodoxe sind.“ Die Kirche sehe in Luther keinen Häretiker mehr. Er habe „einen großen Schritt getan, indem er das Wort Gottes in die Hände der Menschen legte“, so Franziskus.

Bis zum 31. Oktober 2017 erinnern Hunderte von Veranstaltungen weltweit an die Thesenveröffentlichung Luthers 1517 in Wittenberg. Philipp Gessler