Unverhofftes Stück Glück

VERGÄNGLICHKEIT Warum Street Art im Museum nichts zu suchen hat: Die Designerin Annika Fitz hat Straßenkunst untersucht, nicht nur im Hamburger Schanzenviertel, wo eine ihrer Lieblingswände steht

„Die Stadt ist eine Galerie. Zumindest wenn man sich dafür interessiert“

Ein kleiner Junge spielt die Geige, die Bass-Linie besorgt das Grummeln am Himmel. Über der Roten Flora ziehen Wolken heran, Hipster und Yuppies bummeln trotzdem durch die Straßen. Freitagnachmittag im Hamburger Schanzenviertel.

Für die beklebten und besprühten Häuserwände hat kaum jemand einen Blick über. Ganz anders Annika Fitz. Ihr blauer Blazer, ihr rotes Halstuch: Sie fliegen durch ihre Bewegungen wie ihre grünen Augen über die vielen kleinen Hinterlassenschaften an den Kalksandsteinmauern. „Hier der Toaster-Sticker, dahinten dann das Stencil, das sind alles Wegweiser, die zu einem Ballungszentrum führen“, sagt die 31-Jährige mit begeisterter Stimme. „Die Stadt ist eine Galerie“, erklärt sie und streicht sich eine braune Strähne aus dem Gesicht. „Zumindest wenn man sich dafür interessiert.“

Um das Interesse zu wecken an den oft als Schmiererei abgetanen Kunstformen der Straße, hat sie ihre Diplom-Arbeit aufgestockt und in einem Verlag veröffentlicht. Darin erklärt Fitz, wie Bilder in Street Art und Graffiti zu betrachten sind, welchen „Wert“ sie haben. Sie hilft bei der Entschlüsselung der zuweilen abstrakten Schriftzüge und ordnet alles in einen kunstwissenschaftlichen Kontext ein. Ihr dafür entwickeltes Kategoriensystem hat die gebürtige Hamburgerin in mehreren großen deutschen Städten erprobt und beobachtet.

Eine von Fitz’ Lieblingswänden in Hamburg steht in der Nähe des angesprochenen Ballungszentrums, im Park hinter der Roten Flora. Aber sie fiel Fassadenarbeiten zum Opfer, wurde „gebufft“, also gereinigt. Das Vergängliche gehöre auch dazu, sagt Fitz. Sie habe zwar ein Foto von der Wand gemacht, aber das sei nicht das Gleiche. Street Art gehöre auf die Straße: „Das sind Poesie-Bomben, die einfach nicht in Galerien funktionieren“, erklärt sie.

Es geht ihr um den Bezug zum Ort, um die Interaktion mit dem Besucher. Im besten Fall entstehe beim Betrachten ein unverhofftes Stück Glück, ein neuer Kontext. Street Art ist unmittelbarer als Graffiti, figürlicher – und deshalb eher zugänglich. „Hier geht es nicht wie im Graffiti um Ruhm und darum, das Ego zu befriedigen“, sagt Fitz. „Es ist für den Künstler an diesem Ort eine Notwendigkeit.“

Die Absolventin der Hochschule für bildende Künste in Hamburg weiß, wovon sie redet: Als Teenagerin gründete sie mit ihren Freundinnen eine Writer-Crew. Durchaus ungewöhnlich in der von männlichen Jugendlichen dominierten Graffiti-Szene. Die Jungs seien damals die Coolen gewesen, doch sie als Mädchen wollten sich auch beweisen und Aufmerksamkeit. Fitz: „Das mit dem Arsch wackeln sah man ja nicht in unseren Baggy-Hosen“ – 2012 feiern sie 14-jähriges Bestehen.

Das daraus gewonnene Selbstbewusstsein, dieses etwas Rotzige in ihrer Art hat sich Fitz bis heute bewahrt. Nach einem Thema für ihre Arbeit gesucht hat sie lange, das Glück kam dann ganz unverhofft: beim Unterwegssein in der Stadt.  ARNE SCHRADER

Annika Fitz, „Street Art – Wie sich die Kunst die Stadt als Galerie erobert“. Verlag Dr. Kovacs, Hamburg 2012, 136 S.