Warten auf Merlot

Samuel Beckett und das rote Dorf in der Provence. Beckett lebte während des Krieges im französischen Roussillon und recycelte dortige Gebrauchsgegenstände sogar literarisch

VON JOHANNES WINTER

Alain Bonnelly pfiff vor sich hin, während er zwischen Kisten stöberte. Der Weinbauer war auf der Suche nach einem Korkenzieher. Unser Blick fiel auf ein Foto, das zum weingesättigten Ambiente so gar nicht passen wollte. Aus dem Rahmen am Flaschenregal blickte Samuel Beckett in seiner versonnenen Strenge.

Endlich kehrte der Winzer zurück und bemerkte, das Gerät zwischen den Fingern zwirbelnd, unsere Verwunderung. Die erste Flasche war noch nicht geöffnet, da begann Monsieur Bonnelly von längst vergangenen Zeiten zu erzählen: von Samuel Beckett, wie er auf dem väterlichen Gut arbeitete, mit Hacke und Schaufel, bei Sonne und Regen.

Zur Zeit der Weinlese, mitten im Krieg, hatte eines Tages ein Flüchtling angeklopft, der oben im Dorf untergekommen war. In Paris mit knapper Not der Gestapo entgangen, war er mit seiner Lebensgefährtin, der Pianistin Suzanne Dumesnil, im Herbst 1942 nach Vichy-Frankreich, in den von den Deutschen unbesetzten Teil im Süden des Landes geflohen, nach Roussillon.

Einsam liegt die Domaine inmitten der Reben, ringsum ziehen sich die Reihen der Traubenstöcke hügelan, und jenseits des Tales erhebt sich wie ein mächtiger Damm, bedeckt von dunkelgrünen Wäldern, der Luberon, der die sonnendurstigen Weinberge vor dem Mistral schützt.

Wir wanderten durch die Weinberge, um bei Annie Joly anzuklopfen, im „La Bergère“, wo die Hüterin des lokalen Beckett-Gedächtnisses lebt. Madame Joly verwahrte ein Dokument, das sie uns mit einigem Stolz vorführte. Das amtliche Formular hinter Glas war Samuel Becketts polizeiliche Anmeldung. Gleich zweimal hatte er darin seinen Beruf des „écrivain“ eingetragen, penibel Auskunft gegeben auf die Fragen nach dem Früher und dem Jetzt. Am Tag nach seiner Ankunft, dem 6. Oktober 1942, hatte er beim Bürgermeister vorgesprochen, um seine Existenz im Ort zu beglaubigen.

Seine erste Bleibe, wusste Annie Joly, war das Hotel de la Poste, aus dem ein Restaurant der besseren Sorte geworden war, die Salle à manger hoch über den Ockerklippen ein angenehmer Ort, sich bei Speis und Trank der alten Zeiten zu vergewissern: wie der Flüchtling Beckett unter dem gleichen Dach einst mit seiner Suzanne hauste, im Zimmer hinter der Wand, das sich die beiden mit Flöhen und Mäusen teilten, nebst Plumpsklo knapp über dem Abgrund – Erinnerungen, die gewürzt waren mit einem atemberaubenden Blick über die südliche Landschaft, während der Maître Scampisalat mit Grapefruit empfahl, zu verachten sei auch nicht der Krabbencocktail mit Avocado, ebenso wenig die Lammbrust an Oliven oder die Dorade in Zitronenbouillon, ein Gigondas aus heimischen Lagen stieg schon in die Nase.

Zum Dessert vernahmen wir, dass das Flüchtlingspaar bald ein eigenes Unterkommen gefunden hatte, ein Haus, das sein Äußeres bis heute bewahrt hat. Wir flanierten die Dorfstraße hinunter bis zum Ortsrand und gelangten an das eiserne Wegkreuz, wo sich die Straße gabelt, um nach Apt oder nach Goult zu führen. Dort steht das „Maison Beckett“, wie das Anwesen in Roussillon genannt wird.

Sozusagen im Originalzustand, hat es den Bürgermeister zu einem ehrgeizigen Plan verführt: aus der Fluchtherberge des Nobelpreisträgers ein „Writer’s Home“ zu machen, das auch einem sommerlichen Festival Platz bieten könnte. Eine schöne Idee, über die alsbald ein heftiger Streit entbrannte. Denn kaum bekam der Eigentümer sie zu Ohren, als er unter die Spekulanten ging. Steht das Anwesen doch in einer Region des Midi, in der Frankophile aus dem nördlichen Europa noch heute für jede zum Alterssitz taugliche Ruine sechsstellige Summen hinblättern. Auch uns blieb, während die Schatten länger wurden, das Haus verschlossen. Ein kläffender schwarzer Zerberus hielt jeden auf Abstand. Eines Tages aber, so die Hoffnung, würden wir in der „Maison Beckett“ stehen und endlich erfahren, wie es dem Dichter bei der Résistance erging, über die Beckett selbst Stillschweigen bewahrte.

Die lokale Fundgrube, aus der er für seine schriftstellerische Arbeit schöpfte, umfasste eher Utensilien aus dem Dorf wie die berühmte Regentonne im Garten von Becketts Schachfreund, dem Maler Henry Hayden, von der sein Biograf James Knowlson erzählt, ein hölzerner Bottich, in den Beckett nach üblichem Weingenuss sein Wasser abzuschlagen pflegte. Nicht genug damit, gab er der Tonne sogar einen Platz in seinem dramatischen Werk. Offenbar empfand er das Holzfass als so bühnentauglich, dass er es zur Requisite erhob. Im „Endspiel“ errang es Weltruhm, gleich doppelt, wurde den beiden Landstreichern Nagg und Nell zur Heimstatt.

Im „Godot“ aber hat er auch seinem provenzalischen Zufluchtsort ein kleines Denkmal gesetzt: im 2. Akt, wo Wladimir und Estragon im Streit liegen über die Orte ihrer Wanderungen. Während Estragon den Ungeduldigen mimt, sagt Wladimir ärgerlich: „Wir waren doch zusammen im Vaucluse. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Wir haben bei der Weinlese mitgemacht. Bei einem … wie hieß er noch … Bonnelly … in Roussillon.“ Und als Estragon einlenkt, schiebt Wladimir wie zur Bekräftigung nach: „Da leuchtet doch alles so rot.“

Im Schatten eines Olivenbaums liegend, machte sich Zuversicht breit. Vielleicht könnte das Warten auf das „Maison Beckett“ schon nächstes Jahr überstanden sein. Dann wird Becketts 100. Geburtstag gefeiert. Gibt es einen schöneren Satz für eine Festrede als den des Biografen? James Knowlson schrieb über Becketts Jahre im roten Dorf: „Roussillon war für ihn sowohl Rettung als auch Inspiration.“