Berliner Szenen
: In der S-Bahn

Er wäre ruhiger

Ich zeige ihr durchs Fenster einen Vogel, sie mir die Faust

Sonntagnachmittag sitze ich mit dem Kind und seinem Freund Noah in der S1 nach Oranienburg. Die Bahn ist fast leer, nur neben uns sitzt eine ältere Dame. Die Jungs quatschen, ich sehe entspannt aus dem Fenster. Nach zwei Stationen ist die Ruhe dahin. Wie aus dem Nichts baut sich die alte Dame vor uns auf. „Jetzt muss ich tatsächlich raus und den nächsten Zug nehmen!“, keift sie uns an. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich kapiere, dass sie sich von den Kindern gestört fühlt.

„Na, Sie haben es aber auch nicht leicht“, sage ich, zugegeben etwas flapsig. „Und so etwas soll Vorbild für Kinder sein! Na, da wundert mich ja gar nichts mehr!“, faucht sie und kommt noch mal bedrohlich nahe, bevor sie tatsächlich aussteigt. Ich zeige ihr durchs Fenster einen Vogel, sie droht mit der Faust.

„Boah ey, ich dachte, die schlägt gleich zu!“, sagt Noah. „Nee, die war einfach ein bisschen irre“, erkläre ich. Aber in den folgenden 30 Minuten Bahnfahrt werde ich auch irre.

„Wen haben Sie denn eigentlich gewählt?“, beginnt Noah jetzt ein Gespräch mit mir. „In Deutschland gibt’s das Wahlgeheimnis, das finde ich gut“, sage ich kurz. „Also, ich wäre ruhiger, wenn ich das wüsste. Vielleicht hast du heimlich AfD gewählt“, meldet sich das Kind zu Wort. Ich kann ihn beruhigen. Die Ruhe währt kurz. „Vielleicht die DKP“, mutmaßt Noah. „Mein Daddy sagt, die wollen die DDR und die Berliner Mauer zurück.“ Ich scheitere beim Versuch, die kommunistische Idee für Zehnjährige verständlich zu machen. „Oder die Deutsche Drogenpartei.“ – „Meinst du die Piraten?“, hake ich nach. „Die wollen Haschisch legal machen.“ – „Wie dumm!“, konstatiert das Kind, „wer soll das denn wählen? Kein Wunder, dass die keine Stimmen gekriegt haben.“ Zum Glück erreichen wir in diesem Moment Oranienburg, sonst wäre ich jetzt auch ausgestiegen.

Gaby Coldewey