Dicke Backen, schwache Arme

Die Gewerkschaften sehen sich durch die Linkspartei inhaltlich gestärkt. Doch strategisch sind sie geschwächt, denn in der SPD wurde der Reformkurs durch die Wahl gefestigt

Die Gewerkschaften schlagen sich zur Linkspartei – zum Preis einer fehlenden Machtperspektive

Es gehört zu der höchst eigenwilligen Dialektik dieser Bundestagswahl, dass zwar nicht unbedingt Gerhard Schröder, aber doch seine Politik in einer großen Koalition anscheinend am besten aufgehoben ist. Das dementiert die Rede von den zwei politischen Lagern.

Wer gegen Gerhard Schröder opponierte, wählte diesmal nicht die Union oder rechtsradikal, sondern die Linke.PDS. Doch war diese Opposition gegen seinen Reformkurs weit geringer, als nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai erwartet wurde. Das düpiert all jene, die vorschnell meinten, mit der Agenda 2010 könnte die SPD Wahlen nur verlieren. Schröder hat seinen relativen Sieg zwar als einen über Angela Merkel inszeniert, faktisch wurde er über die Widersacher in den eigenen Reihen errungen. Es war vor allem eine Oberhand, die der Sozialdemokrat Schröder über die Gewerkschaftsführung behielt. Das wird weitreichende Folgen für beider Beziehung haben.

Das Verhältnis der Gewerkschaften zur Politik einer regierenden SPD war noch nie frei von Spannungen. 1973 trug der Streik der ÖTV um eine zweistellige Lohnerhöhung sein Scherflein zum Niedergang der Regierungsära Brandt bei, und Anfang der achtziger Jahre brachte der damalige IG-Metall-Vorsitzende Franz Steinkühler 80.000 auf die Straße, um gegen die unsoziale Politik der Schmidt/Genscher Regierung zu protestieren. Das waren aber immer, emphatisch für beider Selbstgefühl formuliert, Auseinandersetzungen zweier Organisationsformen der Arbeiterbewegung, die dabei auch um Hegemonie über ihre gemeinsame Klientel rangen. Diesen spannungsreichen Boden haben bei der Wahl 2005 führende Gewerkschafter rhetorisch – große Teile der Apparate auch politisch – verlassen. Letztere bauten die Linkspartei mit auf, die Erstere nun als taktisches Instrument gegen die SPD nutzen. Beiden schwebt in aktualisierter Fassung jene Mehrheit links von der Union vor, auf die Willy Brandt einst ebenfalls nach einer verlorenen Wahl verwies.

Gerhard Schröders relativer Sieg 2005 ist einer, den er trotz der fehlenden Unterstützung der Gewerkschaften und gegen den Willen nicht unwesentlicher Teile ihrer Apparate errungen hat. Das Verdikt des Ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske, Schröder sei mit seiner Politik gescheitert, hat sich nicht in ein entsprechendes Votum der Mitgliedschaft umgesetzt. Das macht auf der einen Seite die SPD zukünftig unabhängiger, denn es befreit sie von der zwanghaften Vorstellung, die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten sei gleichbedeutend mit der Übernahme gewerkschaftlicher Positionen. Das kaum verhüllte Eintreten vor allem von Ver.di und der IG Metall für die Linkspartei vergrößert nicht nur die Distanz zwischen SPD und Gewerkschaften, es verschärft vor allem die politischen Spannungen innerhalb des DGB. Das beachtliche Ergebnis der Linkspartei mag zwar als eine Stärkung eigener Inhalte verbucht werden, dies aber um den Preis einer fehlenden Machtperspektive. Die Wahrnehmung des Mandats hat sich auf die Kernanliegen Tarifautonomie, Mitbestimmung und Kündigungsschutz reduziert.

Die weitgehende Revision der Hartz-IV-Gesetze, für die man noch vor einem Jahr mobilisierte, wird es in einer großen Koaltion nicht geben. Zur eigenständigen Durchsetzung ihrer Positionen fehlt den Gewerkschaften die Kraft. Denn organisationspolitisch hat sich für sie die Opposition gegen die Politik der rot-grünen Regierung nicht ausgezahlt. Die Zahl ihrer Mitglieder ist rückläufig, ihre Struktur überaltert und auf die verarbeitende Großindustrie und den öffentlichen Dienst zentriert. Frauen und neue Beschäftigungsformen sind unterrepräsentiert. Die Regelung tariflicher Konflikte hat und wird sich auch weiterhin auf die betriebliche Ebene verlagern. All das zwingt die Gewerkschaften zu einer partikularen und pragmatischen Alltagspolitik, die mittlerweile in einem eigenartigen Kontrast zum bezugslosen Universalismus steht, mit dem ohne Ansehen von Differenzen die Vertretung der Arbeitenden wie der Nichtarbeitenden in den überkommenen Institutionen des korporativen Systems reklamiert wird.

Die rhetorische Klammer der sich dabei offenbarenden Brüche bildet der Kampf gegen den „Neoliberalismus“, ein übermächtiges Konglomerat aus Shareholder-Value-Strategien, politischen Abhängigkeiten und falschem Bewusstsein. Dieser Neoliberalismus ist der Linken heute, was den Jusos früher der Stamokap war. Die Rede von dessen Vorherrschaft dient gleichermaßen der Ummantelung eigener Schwächen wie der Denunziation reformerischen Vorgehens.

Im Pseudoradikalismus der Worte finden Gewerkschafter und Linkspartei zusammen. Doch die Worte sind leer, wo sie Strategien formulieren sollen. Seit über zwanzig Jahren beklagen sie einen Abbau der sozialen Standards, doch vermochten sie dem nicht mehr als hinhaltenden Widerstand entgegenzusetzen. Ihre Position ist defensiv und findet keine Mehrheiten, der Ruf nach einer Stärkung des Sozialstaates verhallt unter den Bedingungen einer Transnationalisierung der Politik einerseits und der Fragmentierung gesellschaftlicher Interessen andererseits. Der Sinn einer extensiveren staatlichen Ausgabenpolitik zum Zwecke der Konjunkturbelebung wird selbst von Ökonomen verneint, die, wie Heiner Flassbeck, neoliberalen Denkens unverdächtig sind.

Die Verringerung der Arbeitszeit war die letzte erfolgreiche große Offensive der Gewerkschaften, in einer Erhöhung der Löhne erkennen sie derzeit das probateste Mittel, die Interessen der Arbeitenden zu einem Anliegen der Gesamtgesellschaft zu machen. Die Binnennachfrage und damit die Konjunktur soll belebt werden, um zu mehr Arbeitsplätzen zu kommen. Die Gewerkschaften argumentieren mit einer gesamtwirtschaftlichen Rationalität, die einst im Bündnis für Arbeit ihre korporative Form gefunden hatte. Doch das Bündnis für Arbeit ist eine politische Leiche, die ab und an noch an den Sargdeckel klopft. Was hindert also die Gewerkschaften, die Lohnerhöhungen durchzusetzen und so für die gewünschte Binnennachfrage zu sorgen? Warum reduzieren sie nicht die Arbeitszeiten, um die Arbeitslosenzahl zu senken? Warum stimmen sie stattdessen auf betrieblicher Ebene häufig einer Erhöhung der Arbeitszeit und einer Senkung der Löhne zu? Und warum ist der Arbeitskampf, mit dem die IG Metall die ostdeutschen Verhältnisse den westdeutschen angleichen wollte, so grandios gescheitert?

Schröder inszeniert den relativen Sieg über Merkel, faktischwar es einer gegen die eigene Klientel

Die Antwort auf all diese Fragen liegt bei keinem übermächtigen Neoliberalismus, sondern in der eigenen Schwäche. Die Gewerkschaften werfen sich in eine starke Pose gegenüber der SPD, statt diese Schwächen zu reflektieren. Doch auch die parlamentarische Präsenz der Linkspartei wird das Nachlassen der betrieblichen Bedeutung nicht kompensieren können. Die Linkspartei mag überleben oder gar wachsen, doch eine Gewerkschaft, die davon ihren Fortschritt abhängig macht, hat schon verloren.

DIETER RULFF