Kolumne Hier und dort: Neu geboren werden

Von Anfang an ist auf vieles, was erzählt wird, einfach kein Verlass. Selbst auf die eigene Geburtsurkunde nicht. Über Revolten und Wendepunkte.

Der Himmel über Berlin (respektive dem Historischen Museum und der Kuppel des Berliner Doms) mit dem Fernsehturm, der im Nebel verschwindet

Berlin provozierte in mir ein neues Chaos Foto: dpa

Ich bin mir nicht so sicher, wann ich geboren wurde. Was in meiner Geburtsurkunde steht, unterscheidet sich von dem, was mir später erzählt wurde. Und was mir erzählt wurde, ist von Person zu Person unterschiedlich.

Meine Mutter brachte mich mit Hilfe ihrer Nachbarinnen auf die Welt und starb ein Jahr nach meiner Geburt, bevor sie die Gelegenheit bekam, mir meinen tatsächlichen Geburtstag mitzuteilen.

Deshalb gilt für mich mein Gedächtnis als die wahrste Quelle. Es ist sicherer als alle Urkunden und alles, was mir erzählt wurde.

Die Wahrheit ist, dass ich Ende September geboren wurde. Meiner Erinnerung nach dürfte es im Morgengrauen eines leicht bewölkten Tages gewesen sein. Herbstlich war es, leicht windig und es roch nach Regen. Und ich, ich war neugierig, das neue Leben in allen Details zu erkunden.

Nach neun Monaten Schwimmen in einer salzigen und schleimigen Flüssigkeit hatte ich das Bedürfnis, Gerüche zu riechen, die sich in meinem Gedächtnis eingenistet hatten, ohne dass ich in der Lage war, sie auseinander zu halten, während ich in meinem ersten Meer geschwommen war. Ich war neugierig darauf, die Quelle all jener Stimmen zu entdecken, die ich bereits wahrgenommen hatte.

Aber am dringendsten wollte ich unbedingt das Licht entdecken, das meine geschlossenen Augen anmutig streichelte.

Meine Geburt war nicht leicht. Denn sie war, wie die meisten Geburten, eine Mischung aus Qual, Schmerz und Angst. Ich tat meiner Mutter jedes Mal weh, wenn ich gegen ihre Bauchwand getreten hatte. Ich wollte sie schon damals darauf aufmerksam machen, dass sie eine sehr sture Tochter zu erziehen haben wird. Eine Tochter, die gegen die Idee ihrer Geburt protestierte, bevor sie geboren wurde.

Eine fremde Hand packte mich fest und zog mich heraus. Ich war so glücklich über meine erste Revolte gegen mein erstes Gefängnis, sodass ich dem Leben ins Gesicht schrie: Komm und kämpfe mit mir. Schritt für Schritt entdeckte ich das Blaue, den unruhigen Spatz, die Gerüche der Felder und die Wolken in ihren grauen und blauen Wandlungen.

Im Laufe der Zeit lernte ich verschiedene Revolutionen kennen: die von Ghandi, von Mahmoud Darwish, von Fairuz. Die von Beethoven, von Lorca und von Goethe. Jede Entdeckung war ein Wendepunkt in meinem Leben.

Im September 2014 registrierte mein Leben einen neuen einschneidenden Wendepunkt. Als ich vom Wind nach Deutschland getragen wurde und dort landete, nahm mich keine fremde Hand auf. Aber alles um mich war mir fremd: der Geruch der Erde, die Farbe des Himmels, die Temperatur und vieles andere.

Ich öffnete die Augen ganz weit, um alles Neue aufzunehmen. Ich tappte im Dunkeln und alles in Berlin begeisterte mich. Diese Stadt provozierte mich so, dass ich hier neu geboren werden will. Berlin provoziert in mir ein neues Chaos und verlangt mir das Versprechen ab, dem Leben und meiner Mutter gegenüber, den Lebensweg weiterzugehen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Kefah Ali Deeb wurde 1982 in Latakia, Syrien, geboren und ist 2014 nach Berlin geflohen. Sie ist bildende Künstlerin, Aktivistin und Kinderbuchautorin, außerdem Mitglied des National Coordination Committee for Democratic Change in Syrien.  

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.