Das Unvorhergesehene wagen

Festival Berlin ist allemal die Hauptstadt der Improvisation – mal musikalisch gesprochen. Beim Jazzfest finden sich die Szenen

Freispielorchester mit Tradition: das Globe Unity Orcherstra vor 50 Jahren in der Philharmonie bei den Berliner Jazztagen 1966 Foto: Hans Harzheim

von Philipp Rhensius

Berlin ist musikalisch längst nicht mehr nur Techno-Metropole. Neben der gehypten Clubkultur, die ja inzwischen zum wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden ist, hat sich in den letzten Jahren eine ganz andere Szene entwickelt: experimentelle Musik.

Musiker wie Korhan Erel sind maßgeblich daran beteiligt. Als Mitglied der Band Islak Köpek war er eine der zentralen Figuren der Istanbuler Szene, bevor er 2014 nach Berlin zog. „Ich liebe die Freiheit der Stadt und habe hier viele Auftrittsmöglichkeiten“, sagt er in einem Kreuzberger Café. Berlin habe Städte wie London oder Paris als Epizentren für improvisierte Musik überholt.

Es ist wahr: Berlin ist heute ein Mekka für experimentelle Musik zwischen Jazz und freier Improvisation. Wegen der vergleichsweise geringeren Lebenskosten, aber auch wegen all der kleinen Locations abseits der etablierten Jazzclubs wie das A-Trane in Charlottenburg oder das B-Flat in Mitte. Pro Jahr wird in der Stadt auf über 1.500 Konzerten improvisiert – also drei bis fünf jeden Tag.

Ein Event wie das Jazzfest Berlin, das zu den ältesten Jazzfestivals in Europa gehört, sticht dennoch heraus. Das liegt am sorgfältig kuratiertem Programm und dem offiziellen Hauptaustragungsort, dem Haus der Berliner Festspiele, aber auch an der guten Balance zwischen Tradition und Gegenwart. So spielen in diesem Jahr neben alten Haudegen wie dem legendären Jazz-Schlagzeuger Jack DeJohnette im Trio mit Saxofonist Ravi Coltrane und Gitarrist Matt Garrison oder der HR-Bigband auch die experimentelle Saxofonistin und SpokenWord-Künstlerin Matana Roberts aus New York.

Bei aller Offenheit des Programms drängt sich jedoch auch eine Bestandsaufnahme der städtischen Szene auf, denn sie ist nicht nur sehr lebhaft, sondern auch gespalten. Da ist auf der einen Seite der Jazz, der seinem Erbe treu bleibt und sich ästhetisch traditionell definiert: Als eine Musik mit klarer Struktur, in welcher der individuelle Ausdruck der Musiker im Vordergrund steht und stets Bezüge zur Historie hergestellt werden. Er rekrutiert sich aus den studierten Virtuosen dieser Welt.

Auf der anderen Seite ist da die improvisierte Musik mit ihren Schnittmengen zur Neuen und elektronischen Musik, deren Vertreter stilistisch oft sehr offen sind und in denen das vermeintliche Jazz-Ego in den Hintergrund tritt.

„Es ist eine sehr freie Art des Musikmachens“, sagt Erel. „Sowohl innerhalb der Musik, als auch unter den Musikern gibt es keine Hierarchien.“ Seit Mitte der 1990er Jahre firmiert diese Szene unter dem in Berlin geprägten Begriff Echtzeitmusik. Sie vereint eine wesentlich heterogenere Gruppe von Musikern, von professionellen Autodidakten wie Korhan Erel bis Akademieabsolventen, die sich oft sogar vom Jazz abgrenzen. Wie groß diese Szene inzwischen ist, lässt sich der gleichnamigen Webseite entnehmen, die einen derart gut gepflegten Konzertkalender hat, dass einem beim Anblick der täglichen Auswahl schwindlig werden kann.

Während die einen den Status des arrivierten Künstlers genießen, schwebt über der Echtzeitmusik immer noch der Geist des Undergrounds, der jenseits aller Romantik auch schmerzhaft sein kann. Wenn etwa an einem Abend im Neuköllner Sowieso fünf Weltklasse-MusikerInnen vor ebenso vielen Besuchern spielen, weil im winzigen Studio 8 in Wedding eine Weltpremiere eines angesagten japanischen Avantgarde-Komponisten stattfindet. Wenn also die Konkurrenz zu groß, das Wetter zu schlecht ist, oder die Eigenwerbung über soziale Medien es mal wieder nicht aus der Filterbubble geschafft hat.

Die Geschichte vom Jazzfest Berlin reicht zurück ins Jahr 1964, mit den unter anderem vom „Jazzpapst“ Joachim-Ernst Berendt gegründeten und mit Miles Davis gleich prominent besetzten Berliner Jazztagen, die damals noch im Rahmen der Berliner Festwochen stattfanden.

Aus den Jazztagen wurde das Jazzfest, eine bedeutende Plattform, bei der man immer im November in den Blick nehmen kann, wohin es den zeitgenössischen Jazz gerade so treibt.

Berühmt ist das Jazzfest auch für seine Konzertpremieren: 1966 entstand zum Beispiel bei den Jazztagen das Globe Unity Orchestra des Pianisten Alexander von Schlippenbach, das in der Philharmonie debütierte. 50 Jahre später ist das Free-Jazz-Orchester nun wieder mal – so geschickt Tradition und avancierten Jazz miteinander verbindend – beim Jazzfest Berlin zu hören, am 4. November im Haus der Berliner Festspiele.

Start des Jazzfests ist am 1. November, es dauert bis zum 6. November mit dem Haus der Berliner Festspiele als Hauptbühne, gespielt wird aber auch unter anderem im Martin-Gropius-Bau und im A-Trane. Das Programm findet sich auf www.berlinerfestspiele.de (tm)

Das Jazzfest erinnert auch daran, wie fließend die vermeintlichen Grenzen sind. Ein Musiker, der beide Seiten kennt, ist der Berliner Trompeter Axel Dörner. Er ist nicht nur im Ausland – eine der bekannteren Off-Locations der Stadt – zu Hause, sondern auch Mitglied des Free-Jazz-Orchesters Globe Unity unter der Leitung von Alexander von Schlippenbach, das ebenfalls auf dem Jazzfest gastiert.

Überhaupt ist das, was trennt, zugleich das, was verbindet. Mal abgesehen davon, dass unter den Musikern beider Richtungen ein Faible für monochrome Kleidung und emotionsneutrale Gesichtsausdrücke dominiert, ist das vor allem die Art des Musizierens: Improvisation. Die Bereitschaft, das Unvorhergesehene zu wagen, spontan zu sein, sich jenseits von fixierten Strukturen und Noten ins totale Jetzt zu stürzen und einen Moment zu schaffen, der nicht wiederholbar ist.

Die beiden Szenen sprechen unterschiedliche Sprachen, meinen aber das Gleiche – basieren sie doch wesentlich auf einer der wichtigsten Kulturtechniken der Menschheit: soziale Interaktion, also die Fähigkeit, miteinander zu kommunizieren, dem anderen zuzuhören, das Gesagte zu bestätigen oder zu hinterfragen, sei es noch so fremd und vor allem – Widersprüchen standzuhalten, anstatt sie zu bekämpfen. Das macht diese Musikform, egal, wie sie heißt, so aktuell wie lange nicht.

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