Bürgerbeteiligung in Berlin: Wilde Schreiduelle

Egal ob Verkehrsberuhigung oder Wohnungsbau: Bürgerbeteiligung eskaliert häufig – zum Beispiel, weil die Menschen zu spät von den Plänen erfahren.

bürgerversammlung in Pankow

Bauprojekte sind immer ein Grund für Ärger: Bürger bei einer Anwohnerversammlung in Pankow Foto: dpa

In der Gudvanger Straße möchte man lieber nicht wohnen. Dabei liegt sie in einer ruhigen Ecke in Prenzlauer Berg, direkt am grünen Humannplatz, mit reichlich Altbaubestand und frisch gepflastertem Gehweg. Die Gegend ist auch nicht das Problem. Die Nachbarn sind es.

Einige von ihnen finden es eine gute Idee, ab und an für einen Nachmittag den Verkehr zu stoppen und die Straße Kindern zum Spielen zu überlassen. Mit der Bezirkspolitik auf ihrer Seite versuchen sie seit vielen Monaten, dieses Ziel umzusetzen und aus der Gudvanger eine temporäre Spielstraße zu machen

Doch ein guter Teil der Nachbarn ist dagegen. Im direkten Dialog konnte keine Lösung gefunden werden. Mittlerweile ist die Stimmung in Verachtung umgeschlagen. Eine Anwohnerversammlung vor einiger Zeit endete in wüsten Beschimpfungen. „Sie stören den sozialen Frieden im Kiez!“, warf eine Gegnerin des Projekts der anderen Seite vor. Ihr aggressiver Tonfall offenbarte jedoch, dass sie zu dieser Entwicklung ebenfalls beiträgt.

Über die Zukunft der Spielstraße muss nun zum zweiten Mal ein Gericht entscheiden. Die gut gemeinte Bürgerinitiative ist damit zum Nachbarschaftsstreit eskaliert. Und die Gudvanger Straße ist nicht das einzige Beispiel für eine solche Entwicklung in Berlin.

Stimmung kocht über

In der Kreuzberger Bergmannstraße kochte die Stimmung unter den Anwohnern unlängst über, weil die einen sich eine verkehrsberuhigte Begegnungszone wünschten und viele andere nicht. Im gleichen Stadtteil endeten Info-Veranstaltungen über die Zukunft des Görlitzer Parks in Schreiduellen. Und im von Plattenbauten dominierten Ernst-Thälmann-Park in Prenzlauer Berg haben sich die Nachbarn in einem langen Beteiligungsverfahren in große Wut hineingesteigert auf jeden, der in einem der geplanten Neubauten in der nahen Umgebung heimisch werden will.

„Das ist ein absolut typisches Phänomen“, sagt Jörg Sommer. Er ist Vorstandvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung und Herausgeber des „Kursbuch Bürgerbeteiligung“ – ein Sammelband, der aufzeigt, wie gute Bürgerbeteiligung funktionieren sollte. „Die Leute, die sich beteiligen, sind emotional und haben Lösungen im Kopf“, meint Sommer. Da könne es schon mal hoch hergehen. Allerdings habe die Heftigkeit der Debatten in den vergangenen 20 Jahren zugenommen.

Jörg Sommer, Herausgeber Kursbuch Bürgerbeteiligung

„Emotionen müssen raus. Das muss man akzeptieren“

Sommer erklärt das mit zunehmendem Egoismus, die im Umfeld von Bürgerinitiativen auch als NIMBY-Haltung – englisch für not in my backyard – bekannt ist. „Früher mussten sie mit Gemeinwohninteresse unterwegs sein. Wer einen Neubau verhindern wollte, musste auf dem Gelände schon eine bedrohte Kröte finden. Dieser Druck ist der öffentlichen Diskussion abhanden gekommen.“

Eigentlich sollen im Rahmen einer Bürgerbeteiligung Politiker, Anwohner und Experten zusammen die für die Gemeinschaft beste Lösung erarbeiten. Doch nicht jeder Anwohner ist bereit, sich am Ende auf einen Kompromiss einzulassen. Für manchen ist die Beteiligung nur erfolgreich verlaufen, wenn seine Ideen eins zu eins verwirklicht werden. Wenn innerhalb einer Nachbarschaft zwei gegensätzliche Vorstellungen aufeinander treffen, kann das diese entzweien.

Für Torsten Kühne gehört das zum Alltag. Als Pankower CDU-Stadtrat für Kultur, Ordnung und Umwelt saß er in den vergangenen Jahren immer wieder mit im Raum, wenn Nachbarn sich über die Zukunft der Tucholsky-Bibliothek, des Bucher Schlossparks oder eben der Gudvanger Straße in die Haare bekommen haben. Auch er selbst wurde dabei oft Ziel von Angriffen. Schließlich ist es der Vertreter der Verwaltung, die die Veränderung plant und den Nachbarn zur Diskussion stellt. „Schreiende Bürger sind meist das Ergebnis zu später Beteiligung“, meint Kühne. Der Bezirk will daher ein Konzept entwickeln, das Abhilfe schaffen soll.

Jeder Beteiligungsprozess leidet unter dem, was Experten das „Beteiligungsparadoxon“ nennen. Demnach arbeiten das im Laufe des Verfahrens wachsende Interesse und Engagement der Nachbarn und dessen begrenzte Dauer gegeneinander. Je mehr Leute sich einbringen wollen, desto weniger gibt es zu entscheiden. Das sorgt für Frust.

Dem will Pankow in Zukunft mit einem zentralen Informationsportal im Internet vorbeugen. Bislang werden Beteiligungsverfahren in kryptischer Verwaltungssprache und versteckt auf der Website des Bezirks sowie durch Aushänge an Haustüren angekündigt. Mit dem Portal soll die Information und die Ansprechpartner leichter zugänglich werden.

Der Bezirk Pankow will bis 2018 ein zentrales Informationsportal einrichten

Zudem soll der Wunsch nach Mitsprache bei der Planung konsequenter mitgedacht werden. „Bisher gibt es bei uns Bürgerbeteiligung nur anlassbezogen“, erklärt Kühne. Meist sind das Fälle, in denen die Verwaltung gesetzlich zur Beteiligung der Öffentlichkeit verpflichtet ist – etwa bei der Aufstellung eines Bebauungsplans. In anderen Situationen wird der Bedarf, die Bürger mit einzubeziehen, erst deutlich, wenn schon die ersten Bagger rollen.

Auch in der Gudvanger Straße war das der Fall: Ein Teil der Nachbarn hatte erst von den Plänen erfahren, als die temporäre Spielstraße bereits in Betrieb ging. Sie fühlten sich von der Neuerung überfahren und reagierten entsprechend emotional. An eine sachliche Debatte war folglich nicht mehr zu denken. „Wir wollen das in Zukunft strukturierter machen“, sagt Kühne. „Wir müssen das Verhältnis von Politik und Bürgerschaft weiterentwickeln, sodass wir auf Augenhöhe kommunizieren.“

In der Mehrheit konstruktiv

Einen harten Kern von Bürgern, der nicht zu Kompromissen bereit sei, werde es immer geben, meint Kühne. Aber die große Masse werde man mitnehmen können: „Ich erlebe Bürger in der Mehrheit konstruktiv.“ 2018 soll das neue Beteiligungskonzept in Pankow an den Start gehen.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Civocracy. Das Start-up aus Amsterdam ist seit einigen Monaten mit seinem Internetangebot für Bürgerbeteiligung auch in Deutschland aktiv. Städte können dort zum Beispiel die Zukunft einer leer stehenden Immobilie zu Diskussion stellen; auch Bürger können Themen vorschlagen. Wenn sich genug Andere ebenfalls dafür interessieren, wird darüber eine Debatte eröffnet.

„Zu den Diskussionen offline kommen immer nur die üblichen Verdächtigen. Online erreichen wir auch jüngere und durch die Möglichkeit des Teilens letztlich noch mehr Menschen“, erklärt Héloïse Le Masne vom Berliner Büro von Civocracy. Zudem erfordere das Mitmachen online weniger Zeit. „Wir wollen, dass Bürgerbeteiligung zur Gewohnheit wird.“

In einem Pilotprojekt hat Potsdam sein neues Verkehrskonzept für die Innenstadt bei civocravy.org diskutieren lassen. „Die Debatte war sehr konstruktiv und sachlich“, erzählt Le Masne. Auch sie glaubt, dass eine frühe Beteiligung vor Eskalation schützt. Zudem sei eine breitere Basis an Diskutanten hilfreich, um kleine Grüppchen davon abzuhalten, sich in ein Thema hineinzusteigern und die Debatte kippen zu lassen.

Damit spricht sie eine weitere Herausforderung der emotionalisierten Bürgerbeteiligung an, die auch Hans Panhoff aus seinem Alltag als grüner Stadtrat für Stadtentwicklung in Friedrichshain-Kreuzberg kennt. „Meist haben wir das Problem, dass eine Gruppe dominiert“, berichtet er. Zwar versuche man, auch die Leisen mit einzubeziehen. Im Falle der Bergmannstraße sei das über das Online-Angebot zur Beteiligung zum Teil gelungen. „Aber wenn sie nicht wollen, können wir auch nicht viel machen.“

Auch Panhoff hat Erfahrung mit sich und ihn anschreienden Anwohnern. Wie sein Pankower Kollege Kühne berichtet er davon mit einer gewissen Resignation. Er sagt aber auch: „Es gibt die falsche Erwartung mancher Bürger, dass sie entscheiden, wo es langgeht.“ Bürgerbeteiligung sei gut und wichtig, aber es gebe eben auch eine gewählte Bezirksverordnetenversammlung (BVV) mit Entscheidungsbefugnis. „Sie vertritt die Interessen des gesamten Bezirks; Bürgerinitiativen oft nur ihre eigenen.“

Jörg Sommer von der Deutschen Umweltstiftung setzt in diesem Punkt auf Offenheit von beiden Seiten. „Eine Kommune darf nicht schon die Lösung im Kopf haben. Das muss ein ergebnisoffener Prozess sein, und der dauert, oft Monate“, sagt er. Gleiches müsse man von den Anwohnern verlangen. Allerdings müssten die Politiker auch die Courage haben, offen zu kommunizieren, dass sie am Ende die Entscheidung träfen. Als gewählte Vertreter seien sie dazu schließlich berechtigt.

Frühe Beteiligung, Engagement möglichst vieler Nachbarn und die Bereitschaft auf allen Seiten, sich auf Kompromisse einzulassen: So könnte Bürgerbeteiligung friedlicher und damit für alle Seiten erfreulicher ablaufen. Eine Garantie, dass die Stimmung nicht doch mal kippt, gibt es jedoch auch dann nicht. „Die Emotionen müssen raus. Das muss man akzeptieren“, meint Sommer. Doch ohne Debatte sei Demokratie nicht zu haben. „Die Lösung kann nicht sein, dass wir auf Beteiligung verzichten.“

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