Die Rolle ihres Lebens

GAST-STAR

Mit seinen Musicals „Cats“ und „Phantom der Oper“ hat er in Hamburg den Ruf der Stadt als Touristenmetropole erheblich ermöglicht. Andrew Lloyd-Webber hat auch einen Film von Billy Wilder adaptiert: „Sunset Boulevard“. Ein Titel, der bereits viel Melancholie birgt, der entscheidenden Zutat zu diesem Singspiel: Norma Desmond ist ein Stummfilmstar nach der Zeit, alt geworden, frustriert, nicht mehr hofiert, nicht mehr auf den roten Teppichen zuwege. Mehr muss man nicht wissen, um das Musical zu genießen – außer vielleicht, dass die Hauptrolle in der Lübecker Erstaufführung am kommenden Freitag die dänische Sängerin Gitte Haenning übernommen hat.

Die in Berlin lebende Kopenhagenerin, in der Bundesrepublik seit den frühen 60er-Jahren höchst erfolgreich, darf das Rollenangebot als sinnstiftend verstehen: Auch sie hadert mit den neuen Zeiten, die einst mit „Ich will ’nen Cowboy als Mann“ berühmt wurde und reich, und in den Achtzigern mit Sekretärinnenfeminismus aufsattelte: „Ich will alles“ oder „Ich bin stark“ – Selbstfindungsprosa aus dem Fortbildungskanon für Bildungsurlaube von Frauen.

Soweit man orientiert sein kann, wird Gitte Haenning, im Juni 70 Jahre alt geworden, eine famose Leistung bringen. Sie fühlt schließlich, um was es geht: Nicht mehr so recht in der ersten Reihe, von Pophistoriker*innen missachtet – weil diese auf Popularkultur wenig geben –, aber performativ immer noch tüchtig in Form. Die Lieder sind ihr wie auf die Stimmbänder geschnitten. Aber wird sie auch gut schauspielern? Sicher, was denn sonst? In Dänemark stand sie als Actrice auf der Bühne, in einem frühen „Tatort“ mit Zollfahnder Kressin – als pornoschmuggelnde Unschuld aus Dänemark – sogar kurz vor dem Lübecker Hauptbahnhof. Gitte Haenning in „Sunset Boulevard“: das Stück der Stunde oberhalb von Hannover. JAF