„Im Rückblick liest sich die Ankündigung von Verdi wie der Aufschub einer Hinrichtung.“

Das bleibt von der Woche Immer mehr Flüchtlinge klagen wegen abgelehnter Asylverfahren, Kaiser’s wird wohl doch zerschlagen, die SPD sollte wieder mehr über Inhalte streiten, und bei den Koalitionsverhandlungen wird viel geduzt

Streitet euch öffentlich, Sozis!

Wahlanalyse der SPD

In ihrer Geschichte war die SPD eine Partei der unversöhnlichen Kontroversen

Es ist ein verheerendes Papier, das die Wahlanalysten der Berliner SPD am Mittwoch vorgelegt haben. Die Partei wisse nicht, wofür sie eigentlich stehe, heißt es darin. Politische Visionen, zukunftsweisende Leitideen suche man vergebens.

Hinzu kommt: Immer weniger Menschen glauben, dass es in der Stadt wirklich gerechter zugehe, wenn die SPD regiert. Ihr Kerngeschäft habe die SPD längst aus den Augen verloren.

So weit, so schonungslos. Allein: Was folgt daraus? Die Verantwortlichen scheinen die Debatte nun abmoderieren zu wollen. Michael Müller entschuldigt sich öffentlich für das schlechte Ergebnis. Alles Weitere solle intern geklärt werden. Dies ist freilich ein falscher Weg.

In ihrer Geschichte war die SPD eine Partei des Disputs, der schroffen Auseinandersetzungen und unversöhnlichen Kontroversen – stets ging es dabei um die großen Fragen: Im Kaiserreich rangen revolutionäre Marxisten mit sozialdemokratischen Reformern, später Pazifisten mit den Kriegsbegeisterten. In der frühen Bundesrepublik stritten Ernst Reuter und Kurt Schumacher unversöhnlich um die Westbindung. Ab den 70ern agitierten junge Ökologen gegen die Anhänger der Industriegesellschaft, danach die Friedensbewegten gegen Kanzler Helmut Schmidt und die Pershing-II-Raketen.

Ihre Substanz als Volkspartei bezog die SPD auch daraus, dass es ihr gelang, die großen gesellschaftlichen Debatten in der Partei abzubilden. Sie war ein Katalysator für Kontroversen, der Flügelstreit sicherte Vitalität.

Auch heute muss man nach den großen Streitthemen nicht lange suchen: Wie kann die Politik Integration und Zuwanderung gestalten? Was tun, um die Abgehängten wieder zu integrieren?

Die deftige Wahlniederlage bietet die Chance für die Berliner SPD, wieder ernsthaft zu streiten – über die Antworten auf diese elementaren Fragen und das eigene Selbstverständnis. Sich nun pragmatisch zu geben und in die Koalitionsverhandlungen zu flüchten, mag bequemer sein. Doch wer das inhaltliche Debattieren verlernt, soll sich nicht wundern, wenn er bloß noch als blasser Sachverwalter gilt. Robert Pausch

Essenzielle Angst ums Essen

Das Ende von Kaiser’s

Aufhalten lassen sich die Veränderungen nicht, wir Konsumenten sind zu bequem

Als am Donnerstagabend vor zehn Tagen die vermeintliche Rettung der Supermarktkette Kaiser’s von der Gewerkschaft Verdi bekannt gegeben wurde, war die Erleichterung groß. Und echt. „Für alle Beschäftigten ist es einfach toll zu wissen, dass es eine Perspektive gibt“, sagte der Berliner Betriebsratschef Volker Bohne der taz. Dabei muss man im Rückblick sagen, dass sich die Ankündigung von Verdi eher liest wie der Aufschub einer Hinrichtung.

Von daher sollte man vorsichtig sein mit Aussagen, dass Kaiser’s nun doch zerschlagen wird, wie der Eigentümer am Donnerstagabend dieser Woche ankündigte. Die Gespräche, die laut Verdi die Zukunft bringen sollten, sind gescheitert. Aber fragen darf man durchaus, warum einem das Schicksal der Kette nahegeht, obwohl – ehrlich gesagt – deren Angebot eher ein bisschen zu teuer und deren Service und Image (olle Kaffeekanne!) auch nicht besser sind als das der meisten Discounter.

Ein Grund ist, dass es schlicht sehr viele Kaiser’s-Geschäfte in Berlin gibt, diese oft mitten im Kiez liegen und so fast eine Art Zentrum bilden – nicht zuletzt dank der stetig ausgeweiteten Öffnungszeiten bis Mitternacht, über die die Gewerkschaften nicht sehr erfreut waren.

Diese vielerorts gute Lage dürfte zum einen die Hoffnung nähren, dass es selbst bei einer Zerschlagung für zahlreiche Innenstadtfilialen eine Zukunft gibt. Zum anderen schürt sie die Angst bei den Kunden und Nachbarn vor den sicht- und fühlbaren Auswirkungen. Klar hätte man gern einen Laden vor der Haustür. Aber gleichzeitig schätzt man die Annehmlichkeiten des Online-Einkaufs, inzwischen verstärkt auch bei Lebensmitteln. Kaiser’s steht in diesem Bereich dank „Bringmeister“ nicht schlecht da; gleichzeitig stellt der hauseigene Lieferservice eine Konkurrenz für die eigene Filialstruktur dar.

Auch im Lebensmitteleinzelhandel wird es in absehbarer Zeit Verdrängungsprozesse geben, wie sie der Rest der Branche längst erfährt. Bei Essen ist der Verlust eines Ladengeschäfts für die Kunden aber essenzieller als im Unterhaltungselektronik- oder Kleidungsbereich. Aufhalten lassen sich die Veränderungen dennoch nicht, dafür sind wir Konsumenten zu bequem. Und kaufen am Ende lieber noch teurer beim Späti ein – dessen Inhaber sich, um überleben zu können, meist gnadenlos ausbeuten müssen. Bert Schulz

Zu viel Nähe ist auch nicht gut

Rot-Rot-Grün mag sich

Diffiziler ist das Ganze, weil Rot-Rot-Grün ja eine Dreierbeziehung ist

Am Montag war es wieder zu beobachten. Oder genauer: zu hören. Dass sich die mutmaßlichen künftigen Koalitionspartner beziehungsweise ihre führenden Köpfe persönlich nahestehen, was sich unter anderem im Duzen ausdrückt. Dazu war es im auslaufenden SPD-CDU-Senat nur in einzelnen Fällen gekommen.

Ist ja auch logisch. Michael Müller und Klaus Lederer verhandelten als Landesvorsitzende von SPD und Linkspartei schon 2006 über die damalige Fortsetzung der rot-roten Koalition. Ramona Pop saß zwar in all den Jahren in der Opposition, ist aber als Grünen-Fraktionschefin seit 2009 in der landespolitischen Führungsriege dabei.

Da sitzen also der Micha, der Klaus und die Ramona zusammen und basteln an einem schöneren, sozialeren, sicheren, ja generell besseren Berlin, wie eine linke Wohngemeinschaft. Das ist erst mal gut so, weil dieses Projekt mit Wohlfühlfaktor vielleicht besser gelingt.

Die Sache ist bloß: Wer sich so nahe ist, erwartet vom anderen auch viel. Und wenn’s dann mal nicht so klappt? Wenn dann doch mal die Parteilinie den Vorrang hat vor der eigentlich naheliegenderen, aber nicht allen ins Konzept passenden Lösung? Dann ist das wie in einer sehr emotionsgeladenen Ehe, Partnerschaft, Liebesbeziehung oder welchen Begriff man auch immer verwenden mag. Wer nur in einer Zweckgemeinschaft lebt, dem ist es letztlich wurscht, wenn die Partnerin fremdgeht oder für sich mehr als verabredet aus der gemeinsamen Kasse nimmt.

Große Zuneigung aber geht zwangsläufig einher mit großem Enttäuschungspotenzial, im schlimmsten Fall kann aus großer Liebe abgrundtiefer Hass werden. Das muss nicht so sein, aber es gibt genug Beispiele für Ehen, die gerade deshalb so lang halten, weil die Partner höflich-nüchtern statt hochemotional mit einander umgehen.

Umso diffiziler ist das Ganze, weil Rot-Rot-Grün ja eine Dreierbeziehung ist. Eine, in der naheliegenderweise Linkspartei und Grüne um das Wohlwollen der SPD als stärkster Partner buhlen werden. Da muss Michael Müller dann überlegen, ob er weiter wie am Montag bei jedem Satz von Lederer zustimmend nicken kann, während er das bei Pop nur gelegentlich macht. Sonst sind Ehekrach und Eifersuchtsszenen unausweichlich – und das wäre der Arbeit an einem besseren Berlin nicht zuträglich. Stefan Alberti

Abschreckung kostet nur Geld

ASYLBEWERBER KLAGEN MEHR

Zum Glück scheinen die Richter die harte Linie der Politik nicht mitzugehen

Gerichtssäle sind ein Spiegel der Gesellschaft – und oft genug müssen Richter ausputzen, was schlechte Politik und Verwaltungen verbockt haben. Mangelhafte Hartz-IV-Bescheide etwa sind seit Jahren das täglich Brot an Berlins Sozialgericht. Auch Asylbewerber haben sich im letzten Jahr vermehrt an dieses Gericht gewandt, weil jene Behörde, die bis vor Kurzem Lageso hieß, ihnen gesetzlich zustehende Leistungen vorenthielt. Nun wurde am Dienstag bekannt, dass am Verwaltungsgericht die Zahl der Klagen gegen Asylentscheidungen gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 150 Prozent zugenommen hat.

Die nackten Zahlen lassen gern vergessen, dass es um menschliche Schicksale geht, in diesem Fall um gut 5.000 Asylbewerber vorwiegend aus Syrien und Afghanistan. Weil die Politik die Zahl der Flüchtlinge senken will, ist die Anerkennungsquote bei Afghanen inzwischen auf 45 Prozent gesunken – obwohl es in deren Land bekanntlich eher unsicherer als sicherer wird. Und die überwiegende Mehrheit der Syrer (70 Prozent laut Pro Asyl) bekommt auch kein vollwertiges Asyl mehr nach der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern nur noch „subsidiären Schutz“. Was bedeutet, dass die Menschen ihre Familien über Jahre nicht nachholen können und immer nur Aufenthaltstitel für ein Jahr bekommen. Was wiederum das Integrieren auch nicht einfacher macht.

Zum Glück scheinen die Richter die harte Linie der Politik bislang nicht mitzugehen. Laut Pro Asyl wurden bundesweit bis Oktober 19.500 Klagen von SyrerInnen gegen den „subsidiären Schutz“ eingereicht, 1.900 wurden schon entschieden, nur 120 waren erfolglos. 1.400 Kläger bekamen recht, der Rest hat sich aus anderen Gründen erledigt.

So betrachtet könnte man die Sache gelassen sehen: Solange die Richterschaft als Korrektiv gegen menschenrechtsfeindliche Politik funktioniert, wen kümmert’s, was der Bundesinnenminister will? Zumal Nochjustizsenator Thomas Heilmann (CDU) angekündigt hat, sieben zusätzliche Richter einzustellen.

Diese legalistische Sicht – was regt ihr euch auf, der Rechtsstaat funktioniert doch – blendet die Sicht der Betroffenen aus. Sie müssen immer länger in diesem Schwebezustand ausharren: keine Wohnung, keine Arbeit und keine Ahnung, wann und wie es weitergeht. Schon jetzt warten Flüchtlinge im Durchschnitt 14 Monate auf eine Entscheidung ihres Antrags. Klagen sie im Anschluss, müssen sie noch mal rund ein Jahr warten.

Lange Rede, kurzer Sinn: Es wird immer mehr Zeit, Energie und Geld darauf verschwendet, Flüchtlinge abzuschrecken und loszuwerden. Wenn man es stattdessen dafür ausgäbe, ihr Ankommen in dieser Gesellschaft zu gestalten, wäre viel gewonnen. Susanne Memarnia