Schmurdy bracht sie nach Hamburg: die wertvolle Briefmarke „Rote Venezuela“ Foto: Axel Heimken/dpa

Der Briefmarken-Jäger

Philatelie Lutz Schmurdy sucht Papierschnipsel, die ein Vermögen wert sind: Ein Treffen mit dem Auktionator, der die „Rote Venezuela“ nach Hamburg holte. Der Wert von fast allem sei heute gesunken, sagt er. Bei Briefmarken sei das nicht anders

Strahlt Anstand aus: Briefmarkenexperte Lutz Schmurdy im Auktionshaus Lauritz Foto: Miguel Ferraz

VON EVA THÖNE

Der beste Moment bei der Arbeit, sagt Lutz Schmurdy, ist immer der, wenn die Tür aufgeht, hinter der die Dinge warten, die ein Leben zurücklässt. Weil sich die Spannung noch ins Gute oder Schlechte auflösen kann. Wartet auf Schmurdy Plunder? Oder unerkannte Schätze, hunderttausende Euro wert: Briefmarkensammlungen, mühevoll gepflegt, solche bei denen handschriftlich die Kaufdaten in die Alben notiert wurden? „Das ist kaum kalkulierbar“, sagt Schmurdy. „Nur eins: Die Erfahrung zeigt, dass bei Nachlässen, die ich in Reihenhäusern oder Mietwohnungen begutachte, die Sammlungen häufig sorgfältiger zusammengestellt sind als in Villen.“

Schmurdy, 55, gelernter Einzelhandelskaufmann, arbeitet in Hamburg als freier Auktionator. Er begutachtet und schätzt Nachlässe, besucht Versteigerungen, bietet virtuell auf Ebay und real auf Container oder Koffer, kauft und verkauft, seit 35 Jahren. Er kann fast alles schätzen, sagt er, antike Möbel, Gemälde, Schmuck. Sein Spezialgebiet aber: Münzen, und vor allem Briefmarken.

Tausende Euros für ein Papierstückchen

Als Franz-Josef Strauß starb, fuhr Schmurdy an den Tegernsee, um die Briefmarkensammlung der CSU-Legende zu schätzen. Schmurdy begutachtete die Kollektion von Detlev Rohwedder – „600-qm-Villa, voll unterkellert“ –, nachdem der Präsident der Treuhandanstalt von der RAF ermordet wurde. Schmurdy ist auch der Mann, der die „Rote Venezuela“ zur Versteigerung nach Hamburg brachte, einen Fehldruck aus dem Jahr 1861, der den Wert der Marke um ein Vermögen steigert; seltener als die „Blaue Mauritius“. Schätzpreis für die zwei Papierstückchen, je kaum größer als ein Daumennagel: 550.000 Euro, 2010 wurde eine der Einzelmarken bei einer Auktion in der Schweiz für 288.000 Euro versteigert. Über einen Kontaktmann aus der Szene hatte Schmurdy von einem Briten gehört, dem ein Markenpaar gehörte. Anfang August sollten die zwei Marken im Auktionshaus Lauritz versteigert werden, für das Schmurdy ab und an arbeitet.

„Man kommt viel rum“, sagt Schmurdy. Heute sitzt er im Hamburger Haus von Lauritz, einer Backsteinhalle in Altona: Stühle warten in Zehnerreihen auf Kunden, Alben in Vitrinen, Sofas auf eingezogenen Riesenregalen. Kubistisches hängt neben Pop Art und realistischer Malerei. Überall baumeln Preisschilder, auch an dem braungrauen Lehnsessel, in dem Schmurdy erzählt und der gut in ein einfaches dänischen Ferienhaus passt, aber 1.500 Euro kostet, weil skandinavisches Design gerade im Trend liegt.

Es riecht nicht nach Flohmarkt, schon gar nicht nach feuchtem Kellermuff. Trotzdem fällt Schmurdy auf – das Haar sorgsam gelegt, der Anzug in Anthrazit, die Bewegungen sorgsam. Ein Mann, an dem alles klassischen Anstand ausstrahlt. Um ihn herrscht Unruhe: Dauernd werden Möbel vorbeigeschleppt, gekarrt, geschoben, hin zu der schwarzen Wand, vor der alles fotografiert werden muss. Lauritz versteigert vor allem online alles ab einem Wert von 100 Euro und laut Schmurdy allein über Hamburg mehr als 2.000 Stücke pro Woche. „Natürlich ist das Massenabfertigung“, sagt er. „Aber so ist es halt heute, effizient. Der Wert von fast allem ist ja runtergegangen.“

Auch von Briefmarken. Den Sohn, der von seinem Vater die Briefmarkensammlung als Wertanlage erbt oder das Kind, das sich fette Pakete mit bunten Tiermarken aus aller Welt schenken lässt, sogenannte „Kaufhauspakete“, gibt es kaum noch. „Älter und weniger werden die Sammler“, sagt Schmurdy. Er fuhr in seinem Berufsleben bisher geschätzt zwei Millionen Kilometer, nur für Münzen und Briefmarken. Aber er kalkuliert heute enger, versucht vorher zu erfragen, ob sich eine Fahrt lohnt, wenn ein Nachlassverwalter aus Bayern oder Baden-Württemberg anruft. Weiter macht er trotzdem. „Bis zum letzten Atemzug“, sagt er und es klingt nicht fatalistisch, sondern danach, dass hier ein Mann sitzt, dem sein Job Spaß macht.

„Genau wie der Mittelstand in der Gesellschaft ist auch die Mittelklasse bei den Briefmarken verschwunden“

Lutz Schmurdy

Schmurdy sagt, Briefmarkensammeln ist immer noch besonders. Weil die Marken die Weltgeschichte erzählen. Mit dem, was sich ein Land auf die Marke druckt, erzählt es auch, was ihm wichtig ist. Die Schweiz brachte mal einen Zehnerblock raus, die Marken rochen nach Schokolade, rieb man an ihnen. „Ist doch toll“, sagt Schmurdy. Die Tonga-Inseln veröffentlichten mal Briefmarken, deren Form dem Umriss des Inselstaats nachempfunden war. Immer gut für Überraschungen, die Briefmarken, sagt Schmurdy, als spreche er über einen alten Freund.

Wenn es nach Schmurdy ginge, würden Briefmarken als Schulfach angeboten; an ihnen könnte man zum Beispiel erklären, warum es aus vielen afrikanischen Ländern eine Zeit lang so viele Weltraumbriefmarken gibt, obwohl kein Afrikaner ins All flog. „In den Sechzigern wurden viele afrikanische Länder in die Unabhängigkeit entlassen, das Drucken war dann ein Ausdruck der neuen Selbstverwaltung.“ Weil die neuen Postverwaltungen damit aber überfordert waren, übernahm unter anderen die deutsche Bundesdruckerei. Und weil Weltraummarken schon damals zu den größten Sammlerkreisen zählten, druckte man halt besonders gerne Raketen.

Mit Beginn des Euros hörten viele auf zu sammeln

Dass etwas mit dem Briefmarkenmarkt nicht mehr stimmte, realisierte Schmurdy erst so richtig, als er 1988 bei einem Kunden war, für den er den Posthornsatz schätzen sollte. Die bunte Reihe aus 16 Marken, gedruckt Anfang der Fünfzigerjahre, ist die wertvollste Deutschlands. Anfang der Achtziger wurde die Serie mit acht-, neuntausend Mark bewertet; jetzt musste Schmurdy zu seinem Kunden sagen: 4.000, nicht mehr.

Davor war der Markt immer fetter geworden, zu fett. In den Fünfzigern und Sechzigern kauften die Leute massiv Briefmarken als Wertanlage. Und die Post druckte und druckte, lancierte neue Ausgaben, die nie auf Umschlägen landeten. Als die Sammler dann ihre Gewinne einlösen wollten, Marken den Markt schwemmten, gab es den Kollaps. Mit Beginn des Euro hörten viele endgültig auf zu sammeln. „Der letzte Stoß“, sagt Schmurdy. Heute werden die Marken aus den Sechzigern, zu einem Zehntel des Nennwerts gehandelt. Euronominalen, also gültige Marken, kann man auf Auktionen unter dem Ladenpreis kaufen. „Genau wie der Mittelstand in der Gesellschaft ist auch die Mittelklasse bei den Briefmarken verschwunden.“ Nur die High-End-Philatelerie funktioniere noch, sagt Schmurdy.

Bei 300.000 Euro ging kein Gebot ein

Deshalb ja auch die Idee mit der „Roten Venezuela“. Schmurdy erinnerte sich an den Hype um die „Blaue Mauritius“ in den Achtzigern, als Zeitungen noch groß über den Wert der Seltenheit berichteten. „Das wäre doch auch schön gewesen bei der ‚Roten Venezuela‘, vor allem, weil Südamerika-Marken als Underdogs gelten.“ Aber bei einem Startpreis von 300.000 Euro ging kein einziges Gebot ein, obwohl sogar ein Händler aus Kanada kam, um die Marke anzuschauen. „Es wäre doch schön gewesen. Wenn es nochmal angeboten wird, kann ich mir vorstellen, dass es mehr bringt. Der Markt ist noch nicht reif“, sagt er.

Schmurdy sammelte selbst einmal, mit neun bekam er von seinem Großvater einen Zeppelinbeleg, Post, die mit den Luftschiffen transportiert und von oben abgeworfen wurde. Bis das erste Kind kam, baute er die Sammlung auf 6.000 Marken aus. „Dann wurde der Nachwuchs mein Hobby.“ Schmurdy verkaufte. Er erzählt das ohne Bedauern. Vielleicht, weil seine heutige Arbeit doch viel mit dem Sammelreiz gemein hat – nur kann er seine Beute nicht mehr behalten.

Aber das Mitfiebern bei Auktionen, das Warten auf das richtige Stück, der Triumph, den Mitbewerben in die Augen zu blicken und zu wissen, dass man das Quäntchen mehr an Fachwissen besitzt, um eine Marke richtig einzuschätzen – das alles erlebt der Sammler genauso wie der, der kauft, um weiter zu verkaufen. Schmurdy besitzt selbst 10.000 Fachbücher. Kann die Kunst des berühmten Markenmeisterfälschers Jean de Spérati auseinandernehmen und einem die Tropengummierung südamerikanischer Marken erklären, die dafür sorgt, dass Marken trotz hoher Luftfeuchtigkeit nicht beginnen zu kleben. Er hat viel Respekt vor Leuten, die ihre Sammlung über Jahre im Stillen aufbauen. Und sehr wenig Achtung vor solchen, die sich ihre Sammlung ohne viel Wissen einfach zusammenkaufen, um sie vorzeigen zu können.

Schmurdy sagt, Auktionen funktionieren am besten für Leute, die keine Bühnen brauchen. Weil man mit seinem Wissensvorteil nicht prahlen sollte, um ihn nicht zu verraten. Seine Triumphe feiert er dann im Inneren, für sich. Schmurdy kocht sich nach einem besonders guten Geschäft immer etwas Schönes. Manchmal geht er auch essen, aber nur in solche Restaurants, wo die Speisekarte schmal ist. „Ist wie bei einer Briefmarkensammlung“, sagt er. „Es ist immer besser, in die Tiefe zu gehen statt in die Breite.“