EU & Ungarn

Was wird aus der europäischen Flüchtlingspolitik? Wie geht es in Brüssel nach dem Referendum von Sonntag in Ungarn weiter?

Eigenwillige Deutungen eines Verlierers

Ungarn Premier Orbán spricht von einem „großartigem Ergebnis“, obwohl das Flüchtlingsreferendum an mangelnder Beteiligung gescheitert ist

Ein Demonstrant in Budapest hält ein Bild Orbans hoch: „Was habe ich jetzt schon wieder getan“, heißt es darauf Foto: Vadim Ghirda/ ap

WIEN taz | „Wir haben ein großartiges Ergebnis erzielt“, verkündet Viktor Orbán Sonntagabend vor seinen Anhängern in Budapest. Nach dem vorläufigen Endergebnis des Referendums haben 98 Prozent gegen die Flüchtlingsquoten gestimmt, wie sie die EU vorsieht.

Allerdings: Das Referendum ist ungültig, da zu wenige Ungarn zur Abstimmung gegangen sind – was der Premier mit keinem Wort kommentiert. Stattdessen sagt er, der „überwältigende Sieg“ werde sich auch in Brüssel als „ziemlich scharfe Waffe“ erweisen. In der Öffentlichkeit wird inzwischen eine eigenwillige Deutung des Ergebnisses verbreitet: Neun von zehn Ungarn hätten „nein“ gesagt.

Beteiligt am Referendum haben sich viele Ungarn dort, wo die regierende Fidesz-Partei stark ist. Wo Fidesz schwächelt, blieben die Wähler zu Hause. In der Hauptstadt Budapest haben sich besonders viele enthalten: Im zentralen 5. Bezirk gingen nur 32 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen. Von ihnen stimmten 16 Prozent ungültig, was eine Nettobeteiligung von gerade 28 Prozent ergibt. Viele der Regierungsgegner kritzelten Katzen oder Hunde auf den Stimmzettel und posteten ein Foto davon auf Facebook. Eine von der Satirepartei Zweischwänziger Hund entwickelte Handy-App erleichterte das Verschicken solcher Bilder. Diese Partei hatte schon mit eigenen Plakaten die Kampagne der Regierung ins Lächerliche gezogen. Besonders hoch, in manchen Gemeinden bei 100 Prozent, lag die Beteiligung in Fidesz-Hochburgen im Westen und in Wahlkreisen, wo die Angehörigen von Minderheiten traditionell geschlossen zur Urne gehen.

Während die Komitate an der Grenze zu Serbien und Kroatien, die vergangenes Jahr Schauplatz großer Migrationsströme waren, den Urnengang eher verweigerten, zeigten sich Gemeinden, wo nie ein Flüchtling gesichtet wurde, besonders eifrig. Das Ergebnis ist auch gemessen am ungeheuren Propagandaaufwand ein Flop. 3,2 Millionen „Nein“-Stimmen entsprechen ziemlich exakt dem gemeinsamen Wahlergebnis von Fidesz und der Jobbik-Partei bei den Parlamentswahlen 2014. Orbán gelang es also nicht, mit dem Thema Flüchtlinge zusätzliche Wählerschichten zu mobilisieren. Entsprechend dünnhäutig zeigte er sich am Montag im Parlament, wo er auf Anfragen der Opposition gereizt, belehrend und aufbrausend reagierte.

Für den Kommentator Arbert Gazda in der einst Fidesz-treuen Tageszeitung Magyar Nemzet erklärt sich das Ergebnis damit, dass die Ungarn den permanenten Kriegszustand, in den Orbán das Land versetzt hat, ablehnen.

Expremier Ferenc Gyurcsány, der Chef des oppositionellen Demokratischen Forums (DK), forderte noch am Wahlabend Orbáns Rücktritt. Er habe „alles auf eine Karte gesetzt und ein enormes Debakel erlitten“. Die DK hatte zum Abstimmungsboykott als einzigem Mittel des Protests aufgerufen. Millionen Menschen hätten der Hasskampagne widerstanden, freute sich Gyurcsány, der seit zehn Jahren auf einen echten Erfolg der Linken wartet.

Gyula Molnár von der sozialdemokratischen MSZP sieht es als „verfassungsfeindlich“, wenn die Regierung sich auf das Ergebnis des „ungültigen Referendums berufend in Aktion tritt“. Für die MSZP war dieser Volksentscheid nicht mehr als eine „verdammt teure Meinungserhebung“. Organisation und Propaganda sollen mehr als umgerechnet 30 Millionen Euro gekostet haben.

Für die grünalternative LMP ist die Aufnahme von Flüchtlingen zwar ein echtes Problem. Aber man freut sich darüber, dass Orbáns Verhandlungsposition in Brüssel jetzt geschwächt sei.

Gemeinden, wo nie ein Flüchtling gesichtet wurde, stimmten besonders eifrig im Sinne Orbáns ab

Orbáns Rücktritt verlangte auch der Chef der rechtsradikalen Jobbik, Gábor Vona. Orbán habe ein „riesiges Eigentor geschossen und eine persönliche Niederlage erlitten“. Jobbik hielt das Referendum für ein teures Abenteuer mit unsicherem Ausgang und machte sich dafür stark, gleich via Verfassungsänderung Nägel mit Köpfen zu machen.

Orbán macht keine Anstalten, persönliche Konsequenzen zu ziehen. Im Gegenteil, er sieht die an den Realsozialismus gemahnende Zustimmungsrate als Auftrag für eine Verfassungsänderung, die „den Willen des Volkes widerspiegelt“.Ralf Leonhard