Von düsteren Verhältnissen

KINO Der Episodenfilm „Ten Years“ entwickelt eine fünffache Dystopie der Zukunft von Hongkong

Selbst der Verkauf lokaler Hühnereier wird in „Ten Years“ zum subversiven Akt erklärt Foto: Golden Scene

von Carolin Weidner

Zehn Jahre von jetzt an – wie könnte das Leben in Hongkong dann aussehen? Diese Frage haben sich fünf Regisseure, Ng Ka-leung, Jevons Au, Chow Kwun Wai, Fei-Pang Wong und Kwok Zune, gestellt. Ergebnis ist der dystopische Episodenfilm „Ten Years“ (2015) über die Zukunft der Metropole am Perlflussdelta.

Über sieben Millionen Menschen leben hier, in einem der größten Wirtschaftszentren der Welt. Doch die Situation Hongkongs ist kompliziert bis vertrackt und, glaubt man den Prognosen der Regisseure von „Ten Years“, wenig hoffnungsvoll. Gerade hatte der Film auf dem Filmfest Hamburg Deutschlandpremiere.

Eigentlich sollte er hierzulande aber schon viel früher zu sehen sein. Das jedenfalls erzählt Marianne Corsel, eine der GruppensprecherInnen von Amnesty International Berlin-Kreuzberg. Amnesty Kreuzberg feiert am kommenden Samstag sein 20-jähriges Bestehen im Kino Sputnik am Südstern. „Ten Years“ ist Teil des Programms. Corsel war es, die den Film vorgeschlagen hat. Sie sagt: „Der Film lief in Hongkong sehr erfolgreich, wurde in China aber umgehend verboten. Das ist natürlich spannend!“

China ist eines der Schwerpunktländer der Kreuzberger Gruppe. Für die Geburtstagsfeier wurde entschieden, sich China von einer anderen Seite her zu nähern: über Hongkong. „Uns ist klar, dass in China in Sachen Menschenrechte noch eine Menge Arbeit zu leisten ist“, so Marianne Corsel. Die dunklen Szenerien, die „Ten Years“ heraufbeschwört, zeugen davon. In ihnen muss sich Hongkong China immer weiter beugen. So bestimmt Beijing über lokale Lebensmittel-Produktionen – wie in der Episode „Local Egg“ zu sehen ist, in der schon der Verkauf von Eiern zum subversiven Akt wird. Auch Kantonesisch, eine eigenständige Variante der chinesischen Sprachen und derzeit Amtssprache in Hongkong und Macau, befindet sich auf dem Rückzug. In „Dialect“ wird dem Kantonesischen jeglicher Wert abgesprochen. Bereits heute erkennt China Kantonesisch offiziell nicht als eigene Sprache an, sondern lediglich als „Dialekt“.

Der Film lief in Hongkong erfolgreich, wurde in China aber umgehend verboten

In „Ten Years“ ist die Situation freilich zugespitzt: Hier verliert ein Taxifahrer mittleren Alters rapide den Anschluss zur Außenwelt, weil alle Putonghua (Mandarin) sprechen. Die Bedienung im Restaurant versteht ihn nicht, genauso wenig wie das Navigationssystem im Fahrzeug. Selbst der Sohn schämt sich für den Vater.

Die meisten Szenarien des Films verweisen auf komplexe Zwischenfälle in der Vergangenheit, die wiederum erneut aufgegriffen, emotionalisiert und weitergedacht werden. Herzstück dabei dürfte „Self-immolator“ sein, ein rasant inszenierter Kurzfilm um eine Selbstentzündung vor dem britischen Konsulat. Ein Gruppe junger Aktivisten befürchtet die Ursprünge der Tat in den eigenen Reihen – und bangt nun, wer von ihnen zu dieser drastischen Form des Protests gegriffen haben könnte. „Self-immolator“ steckt voller brisanter Symbole. So ist neben dem brennenden Körper auch das Gerippe eines Regenschirms zu sehen – zweifelsohne Anspielung auf die Ereignisse des Jahres 2014, einprägsam „Regenschirm-Revolution“ getauft. Vor allem junge China-Kritiker reagierten damals auf einen vom Nationalen Kongress in Peking gefassten Beschluss, der der Hauptstadt das Recht geben sollte, eine Vorsortierung der Kandidaten für den Verwaltungschef der Sonderverwaltungszone Hongkong vorzunehmen.

China sei bei „Ten Years“ vor allem die Darstellung von Protest aufgestoßen, sagt Nadine Godehardt von der Stiftung Wissenschaft und Politik, die im Anschluss an den Film in der Kinobar über die aktuelle Menschenrechtslage in China sprechen wird. „Zentral für das letztliche Verbot sind höchstwahrscheinlich die Darstellung sowohl von Protestformen, die wir während der Regenschirm-Proteste gesehen haben, als auch das Thematisieren der Selbstverbrennung als Protestform (Stichwort: Tibet)“, so Godehardt. Und fügt hinzu: „Dass die Zukunft aber vielleicht nicht ganz so düster aussieht wie im Film beschrieben, haben die letzten Legislativratswahlen gezeigt!“ Diese nämlich lassen auf eine politische Fortsetzung der Demokratiebewegung von 2014 hoffen.

„Ten Years“ (HK 2015): Sputnik-Kino, Höfe am Südstern, Hasenheide 54, 15. 10., 19 Uhr, anschl. Vortrag & Party, Eintritt frei