ZEIT.ORTE

Falko Hennig, geboren 1969 in Berlin-Friedrichshain, ist gelernter Schriftsetzer, Schriftsteller, Stadtführer, Journalist und Rikschafahrer. Seit 1995 lädt er gemeinsam mit Ahne, Jakob Hein, Jürgen Witte, Heiko Werning jeden Sonntag zur Reformbühne Heim & Welt in die Jägerklause. Das nächste Mal am Sonntag, dem 16. Oktober mit den Gästen Franziska Hauser, Clemens Schittko und Elis, 20 Uhr, Grünberger Straße 1, U5 Weberwiese, 4–8 Euro, www.reformbuehne.de

Rattenscheiße

Falko Hennig, geboren 1969 in Berlin-Friedrichshain, ist gelernter Schriftsetzer, Schriftsteller, Stadtführer, Journalist und Rikschafahrer. Seit 1995 lädt er gemeinsam mit Ahne, Jakob Hein, Jürgen Witte, Heiko Werning jeden Sonntag zur Reformbühne Heim & Welt in die Jägerklause. Das nächste Mal am Sonntag, dem 16. Oktober mit den Gästen Franziska Hauser, Clemens Schittko und Elis, 20 Uhr, Grünberger Straße 1, U5 Weberwiese, 4–8 Euro, www.reformbuehne.de

Falko Hennig

Was machen die Patchworkfamilien von heute? Wir wohnen zum Beispiel alle noch zusammen, aber in zwei Häusern. Zwei Häuser, ein Hausverein, ich wohne in dem einen, meine Töchter und ihre Mutter im anderen. Und was machen wir so in unserer Freizeit? Das will ich erzählen.

Irgendwann haben wir beschlossen, dass sich die Hausgemeinschaften um interne Probleme jeweils allein kümmern, also wenn in dem einen Haus eine Glühbirne im Treppenhaus kaputt ist, müssen die das auf die Reihe kriegen und umgekehrt.

Als also der Aufruf kam: „Wer macht den Rattenkot im Keller mit weg?“, hätte mir klar sein müssen, dass dieser Keller in unserem Haus oder in dem anderen liegen musste. Ich hätte ja bloß mal fragen müssen. Aber ich Idiot hatte nicht gefragt und so passierte es.

Die Anfrage kam nämlich von Heidi, meiner früheren Freundin, inzwischen haben wir unsere gemeinsamen Töchter zu jungen Damen großgezogen, aber irgendeine verhängnisvolle Abhängigkeit oder Schuldkomplexe oder Perversitäten ließen mich einfach meine Zusage schreiben. Vielleicht dachte ich auch, Rattenkot sei satirisch gemeint. Andererseits war die Rattenplage in unseren Häusern unübersehbar.

Sie nagten sich durch Stahlbeton, durch Holz sowieso, sie waren in Töpfen, im Kühlschrank, sogar im Eisfach, in meinen Glasvitrinen tummelten sie sich, und wenn ich das Lexikon öffnete, um unter Ratten etwas nachzuschlagen, war es prompt hohlgenagt, und ich erblickte eine Rattenmutter, die ihre Jungen säugte.

Sie nagten uns die Fundamente weg. Auf der einen Seite war das Haus schon zwei Meter in der Erde versunken. Sie liefen durch alle Rohre und wir hatten einen Kammerjäger engagiert, der Gift ausgelegt, aber auch gesagt hatte: „Sie müssen den Keller saubermachen. Wir können nur sehen, ob die Ratten noch da sind, wenn wir ihre Rattenscheiße erkennen können.“

„Rattenscheiße? Aber die ganzen Keller sind doch voll mit Rattenscheiße.“

„Genau das ist das Problem, ich kann nicht erkennen, ob es alte oder neue ist. Sie müssen den Keller sauber machen.“

Nun, also kein Aprilscherz. Heidi, meine Töchter und ich hatten uns die dreckigsten Sachen angezogen, die wir in unseren Hipster-Schränken finden konnten, und der längste Tag konnte beginnen.

Als es dann prompt nicht in unseren, sondern in den Nebenkeller ging, wurde mir klar, dass ich einen Akt völlig irrationaler Edelmütigkeit beging. Ich half bei der schlimmsten Arbeit meiner Laufbahn nicht in meinem, sondern im Nachbarkeller.

Wir kamen in den ersten Kellerraum und ich dachte: So schlimm ist es hier ja nicht mit der Rattenscheiße. Komisch war nur, dass die Kammer so niedrig war. Dann bemerkte ich, dass der Fußboden ungefähr einen Meter hoch mit einer festgestampften Schicht aus Rattenkot bestand. Schon beim ersten Versuch, das Zeug trocken mit eine Schippe abzutragen, war das Kabuff sofort voll beißendem Qualm oder Staub, wir husteten und retteten uns ins Freie. Nach einer halben Stunde konnte man wieder hinein.

Da überhaupt keine Chance bestand, das Material anders abzubauen, wurde die Masse unter Wasser gesetzt. Es schluckte Wasser und schluckte, wie ein Schwamm, wie ein gigantischer Rattenschwamm.

Was immer ich mir jemals über meine Stellung im Jahr 2016 gedacht hatte, niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass ich in einem fremden Haus im Keller die Rattenscheiße wässere. Das Leben ist voller Überraschungen und es ist noch nicht einmal zu Ende.

Die Rattenscheiße und was immer da noch alles dabei war, schien durch das Wasser in einer chemischen Reaktion noch zäher und härter zu werden. Anstatt das Zeug mit Besen zusammenzukehren, wie wir geplant hatten, mussten wir mit Spitzhacken ran. Wenn die Leute immer jammern, dass sie im Quecksilberbergwerk arbeiten müssen, dann möchte ich die gern mal beim Abbau von Rattenkot sehen.

Nach einer unendlichen Zeit waren wir fertig, ein Wunder, man konnte den Ziegelboden wieder sehen, das erste Mal seit dem Bau des Hauses 1864, so wie es den Eindruck machte.

Und dann sagte Heidi, das sei jetzt der erste Raum gewesen. Und es seien jetzt noch drei größere dran sowie eine Treppe und ein langer Gang. Nie hätte ich gedacht, dass Ratten überhaupt solche Unmengen von Fäkalien ausscheiden könnten. Aber es stimmte.

Im nächsten Raum lagen überall poröse Starkstromkabel und ein unter Hochdruck stehender Kessel stand in der Mitte und überall gingen Rohre lang, gegen die man unweigerlich mit dem Kopf stieß. Als wir das Wasser einließen, sprühten die Kabel Funken und am Kessel kochte es. Hinter den Rohren war der Rattenkot bis zur Decke angewachsen. Durch das Wasser wurde alles ganz schlimm. Mit Schaufeln, Kehrblech und Eimern versuchten wir, die mal flüssige, mal zähe Masse zu entfernen, es spritzte, die Flüssigkeit suppte durch die Schuhe, von Heidi bekam ich versehentlich einen Eimer über den Kopf gegossen.

„Ich sehe aus wie ein Schwein!“, beklagte ich mich bei ihr und sah sie vorwurfsvoll an. Die blickte kurz zu mir und sagte:

„Und dazu bist du auch extrem mit Rattenkot verschmiert.“

Die Arbeit dauerte längst nicht so lange, wie sie sich anfühlte. Manchmal versuchte ich mich damit zu trösten, dass wir vielleicht einen Schatz finden würden. Den geheimen Goldschatz der Ratten. Stattdessen tat mein Rücken weh, und als ich mich aufrichtete, knallte ich zum hundertsten Mal gegen eines dieser schrecklichen Rohre.

Der Jauchegestank war eigentlich nicht auszuhalten, Lüftung in den Katakomben überhaupt nicht möglich, also gingen wir regelmäßig nach oben an die frische Luft. Und da sah ich Katja im Hof, deren Keller ich gerade säuberte und die sich weiß Gott was darauf einbildete, dass sie oben die Blumen goss. Die Blumen gießen! Wir säuberten die Hölle unterm Haus, um zu verhindern, dass wir alle von den Ratten bei lebendigem Leibe bis auf die Knochen abgenagt werden würden, und sie goss die Blumen.

Ich rief: „Katja, liebe Katja!“ und öffnete meine Arme. Sie schaute überrascht und etwas ängstlich auf meine verschmierten Hände, Arme, meine ganze tropfende, stinkende und unheildrohende Erscheinung. Aber sie wollte noch nicht wahrhaben, was ich vorhatte.

Normalerweise geben wir uns nur die Hand oder sagen Hallo, deshalb glaubte sie nicht, dass ich wirklich durchziehen würde, sie konnte es sich nicht anders erklären, als dass ich einen Scherz machte.

In dem Augenblick umarmte ich sie, sie quietschte vor Schreck und Angst und Ekel. Aber meinem Griff konnte sie sich nicht entwinden, ich drückte, bis sie von Kopf bis Fuß genauso mit Rattenscheiße besudelt war wie ich. Die Sonne brach durch die Wolken, Katja beschimpfte mich wie noch nie in ihrem Leben, und ich lachte glücklich in die Sonne, glücklich, dass ich hier am Licht des Tages war und etwas von meinem Glück weitergeben konnte.

Ich war dankbar für diesen Tag mit Familie. Ich hätte nie gedacht, dass wir zu solcher Arbeit in der Lage wären.

Wir waren über und über mit Rattenkot bedeckt, aber wir hatten es geschafft. Ein riesiger Berg aus mumifizierten und frisch gestorbenen Ratten, Mörtel, Sand, Kies und Schrauben inmitten unfassbarer Mengen Rattenkot lag jetzt auf dem Hof.

Ein trauriges, bräunliches Rinnsal floss zum Gulli und unter dem Deckel lebten sie: Ratten. Sie gehörten dazu, wir waren nicht sonderlich besser, und doch mussten wir sie bekämpfen. Aber wenn es stimmte, was Jesus Christus gesagt hatte, dann würden wir uns bald in der Hölle treffen.