Donuts und Nano-Autos

Nobelpreise Drei naturwissenschaftliche Sparten, sieben Nobelpreisträger. Über die Auserwählten in den Fächern Medizin, Physik und Chemie waren einige Wissenschaftler dann doch überrascht

Der frisch gekürte Nobelpreisträger Duncan Haldane in seinem Haus in Princeton, New Jersey Foto: Dominick Reuter/reuters

Die Geheimnisse der Materie

Phy­si­ka­li­sche For­schung kratzt zu­wei­len an die Gren­zen mensch­li­cher Vor­stel­lungs­kraft. Die theo­re­ti­schen Ent­de­ckun­gen to­po­lo­gi­scher Pha­sen­über­gän­ge und to­po­lo­gi­scher Pha­sen von Ma­te­rie, die nun drei bri­ti­schen Wis­sen­schaft­lern den dies­jäh­ri­gen No­bel­preis be­scher­ten, ge­hört zwei­fel­los dazu. Die Aus­zeich­nung geht zur einen Hälf­te an David Thouless, die an­de­re Hälf­te tei­len sich Dun­can Hald­a­ne und Micha­el Kos­ter­litz. Alle drei Wis­sen­schaft­ler sind ge­bür­ti­ge Bri­ten, leben und for­schen aber seit Jahr­zehn­ten in den USA.

Die Er­geb­nis­se ihrer For­schung er­ziel­ten sie we­ni­ger in La­bo­ra­to­ri­en als am Schreib­tisch. Mit ma­the­ma­ti­schen For­meln er­rech­ne­ten sie die Ei­gen­schaf­ten von Ober­flä­chen. Dabei konn­ten sie Er­klä­run­gen dafür lie­fern, warum es neben den drei be­kann­ten Ag­gre­gat­zu­stän­den, also fes­ter, flüs­si­ger und gas­för­mi­ger Ma­te­rie, noch so­ge­nann­te exo­ti­sche For­men gibt. Zum Bei­spiel kön­nen feste Ma­te­ria­li­en in ex­tre­mer Kälte ohne Wi­der­stand Strom lei­ten. Man nennt sie dann Su­pra­lei­ter. Auch gibt es das Phä­no­men, dass es in so­ge­nann­ten Su­praflüs­sig­kei­ten keine Rei­bung mehr gibt. Spek­ta­ku­lär sind Vi­deo­auf­nah­men von sehr kal­ten Flüs­sig­kei­ten, die ent­ge­gen der Schwer­kraft am Rand ihres Be­häl­ters nach oben flie­ßen.

Thouless, Hald­a­ne und Kos­ter­litz konn­ten mit ihrer For­schung be­reits in den 1970er und 1980er Jah­ren an­hand so­ge­nann­ter to­po­lo­gi­scher Kon­zep­te er­klä­ren, wie und warum ex­trem dünne Ma­te­ri­al­schich­ten von einem Zu­stand in den an­de­ren wech­seln und wieso das Aus­wir­kun­gen auf deren Ei­gen­schaf­ten hat. Dabei half ihnen der Um­stand, dass es ma­the­ma­ti­schen For­meln egal ist, wie groß der Kör­per ist, den sie be­rech­nen. Sa­lopp for­mu­liert kann man mit dem glei­chen Re­chen­weg die Ei­gen­schaf­ten eines Do­nuts und eines Ret­tungs­rin­gs be­rech­nen. Das Loch des Do­nuts spielt dabei eine be­son­de­re Rolle. Denn bei der To­po­lo­gie, einem be­son­de­ren Be­reich der Ma­the­ma­tik, ist die Kör­per­form letzt­lich un­wich­tig, ent­schei­dend ist die Zahl der Lö­cher. So äh­nelt, to­po­lo­gisch be­trach­tet, eine Tasse mit ihrem Hen­kel eher einem Donut als einem Be­cher ohne Hen­kel.

Die Ent­schei­dung der Jury stieß in der Fach­welt auf Ver­wun­de­rung. Der Di­rek­tor der Deut­schen Phy­si­ka­li­schen Ge­sell­schaft, Rolf-Die­t­er Heuer, sagte un­mit­tel­bar nach der Be­kannt­ga­be der Preis­trä­ger: „Das Ko­mi­tee hat die Kraft zu über­ra­schen.“ Hen­ning Rie­chert vom Ber­li­ner Paul-Dru­de-In­sti­tut hofft, dass mit der Ver­brei­tung von Su­pra­lei­tern En­er­gie ein­ge­spart wer­den kann. „Es geht aber be­stimmt nicht um die Strom­lei­tung von der Nord­see nach Bay­ern“, er­gänzt Peter Fratzl vom Pots­da­mer Max-Planck-In­sti­tut für Kol­lo­id- und Grenz­flä­chen­for­schung. Franzl sieht eher An­wen­dun­gen bei Quan­ten­com­pu­tern, die va­ria­bler rech­nen und mehr In­for­ma­tio­nen ver­ar­bei­ten und spei­chern könn­ten. Tat­säch­lich wären Rech­ner mit bis­lang un­vor­stell­bar gro­ßer Leis­tung durch neu zu ent­wi­ckeln­de Ma­te­ria­li­en durch­aus denk­bar. Im Ver­gleich dazu wären heu­ti­ge markt­üb­li­che Com­pu­ter sim­ple Re­chen­ma­schi­nen.

Mit Ent­täu­schung re­agier­te man indes an der Uni­ Han­no­ver. Ei­gent­lich hatte man fest damit ge­rech­net, bei den No­bel­prei­sen mit be­rück­sich­tigt zu wer­den. Schließ­lich war man bei dem Nach­weis der Gra­vi­ta­ti­ons­wel­len, der welt­weit An­fang des Jah­res für Auf­se­hen sorg­te, be­tei­ligt ge­we­sen. Al­ler­dings konn­ten jene For­schungs­er­geb­nis­se erst nach dem Stich­tag zur No­mi­nie­rung der No­bel­preis-Kan­di­da­ten ver­öf­fent­licht wer­den. So müs­sen sich die Forscher aus Nie­der­sach­sen noch min­des­tens ein Jahr ge­dul­den. Der ak­tu­el­le Preis­trä­ger Thouless hatte diese Ge­duld. Vor Kur­zem ist der eme­ri­tier­te Pro­fes­sor 82 Jahre alt ge­wor­den. Lutz Debus

Müllabführ in den Zellen

Würde nicht ab und zu auf­ge­räumt, sähe es in mensch­li­chen Zel­len schnell chao­tisch aus. Als­bald wür­den de­fek­te Or­ga­nel­len wie Mito­chon­dri­en durch das zäh­flüs­si­ge Plas­ma wa­bern, pa­tho­ge­ne Keime könn­ten un­ge­hin­dert Scha­den an­rich­ten, falsch ge­fal­te­te Pro­te­ine eben­so – sie sind to­xisch für Zel­len. Damit Zel­len über­haupt über­le­bens­fä­hig sind und funk­tio­nie­ren, hat die Evo­lu­ti­on ihnen darum einen Putz­dienst organisiert. Der Auf­räumpro­zess, bei dem die Zelle de­fek­te Mo­le­kü­le in bla­sen­ar­ti­ge Ge­bil­de ein­schließt, an­schlie­ßend zer­stört und re­cy­celt heißt „Au­to­pha­gie“.

Yo­shin­o­ri Ohs­u­mi, Zell­bio­lo­ge am In­sti­tu­te of Tech­no­lo­gy in Tokio, hat we­sent­lich zum Ver­ständ­nis, wie die­ser Me­cha­nis­mus ge­steu­ert wird, bei­ge­tra­gen. Und weil Au­to­pha­gie bei In­fek­tio­nen, Al­te­rungs­pro­zes­sen und zahl­rei­chen Krank­hei­ten eine wich­ti­ge Rolle spielt, hat ihm das No­bel-Ko­mi­tee die­ses Jahr den Preis für Me­di­zin ver­lie­hen.

Zwar hat­ten For­scher be­reits in den 1960er Jah­ren das Prin­zip ent­deckt und be­schrie­ben. Lange war je­doch un­klar, wie be­deu­tend Au­to­pha­gie für die Ba­lan­ce in der Zelle ist und wie sie über­haupt ge­lenkt wird.

Doch Ohs­u­mi hat sich für den Putz­dienst in­ter­es­siert. In den 1990er Jah­ren züch­te­te er spe­zi­el­le He­fe­zel­len und deck­te die Erb­an­la­gen, die er ATG-Ge­ne tauf­te, und die da­zu­ge­hö­ri­gen En­zy­me auf, die an dem mehr­stu­fi­gen Pro­zess be­tei­ligt sind.

„Bril­lan­te Ex­pe­ri­men­te“ nann­te das No­bel-Ko­mi­tee diese Ar­bei­ten. Schließ­lich ist die Au­to­­­pha­gie ein lau­fen­der Pro­zess, be­tei­lig­te Trans­port­ve­hi­kel sind sehr kurz­le­big und konn­ten daher nur schwer be­ob­ach­tet wer­den.

Dank Ohs­u­mi weiß man heute: Re­zep­tor­mo­le­kü­le er­ken­nen to­xi­sche Pro­te­ine, Viren oder de­fek­te Or­ga­nel­len. Diese wer­den in Au­to­pha­go­so­men, dop­pel­wan­di­ge Bläs­chen, ein­ge­sperrt und zum zell­ei­ge­nen Wert­stoff­hof, den Ly­so­so­men, trans­por­tiert. Dort zer­le­gen En­zy­me die Pro­te­in­frag­men­te voll­stän­dig und ma­chen sie un­schäd­lich.

Der ja­pa­ni­sche For­scher fand auch her­aus, dass ho­mo­lo­ge Gene, Gene also, die die glei­chen Funk­tio­nen aus­üben, auch im Men­schen exis­tie­ren. Ist der Auf­räum­dienst nicht am Werk, führt das zu Krank­hei­ten wie Par­kin­son, Dia­be­tes, Herz­krank­hei­ten oder Krebs. So ist das Gen BECN1 auf­fäl­lig häu­fig bei Brust- und Ei­er­stock­krebs-Pa­ti­en­tin­nen mu­tiert. Es re­gu­liert erste Schrit­te bei dem Auf­räumpro­zess. Ohs­u­mis Ent­de­ckun­gen gel­ten darum auch als Grund­la­ge, um mög­li­che The­ra­pi­en zu ent­wi­ckeln.

Ohs­u­mi hat viele an­de­re Wis­sen­schaft­ler in­spi­riert. Und so ist die Au­to­pha­gie heute einer der am in­ten­sivs­ten stu­dier­ten Pro­zes­se in der Bio­me­di­zin. Laut dem No­bel-Ko­mi­tee gab es seit dem Jahr 2000 einen er­heb­li­chen An­stieg an Pu­bli­ka­tio­nen zu dem Thema.

Dabei sah es erst­ mal nicht so aus, als würde Ohs­u­mi in der For­schung re­üs­sie­ren. Denn nach sei­ner Pro­mo­ti­on an der Uni­ver­si­tät in Tokio im Jahr 1974 fand er zu­erst keine Stel­le und war frus­triert, wie er ein­mal in einem In­ter­view sagte.

Sein Dok­tor­va­ter ver­mit­tel­te ihn schließ­lich für drei Jahre an die Ro­cke­fel­ler Uni­ver­si­ty in New York, wo er zu­erst zum Thema „In-vi­tro-Fer­ti­li­sa­ti­on“ bei Mäu­sen forsch­te. Zu­rück in Japan, grün­de­te er dann eine ei­ge­ne Ar­beits­grup­pe, um sich mit der wenig be­ach­te­ten Au­to­pha­gie zu be­schäf­ti­gen.

Viel­leicht ist ja der etwas holp­ri­ge Auf­stieg der Grund dafür, dass Ohs­u­mi be­schei­den ge­blie­ben ist. Als er be­nach­rich­tigt wurde, soll er über die Aus­zeich­nung aus Stock­holm über­rascht ge­we­sen sein. Kol­le­gen hat­ten da­ge­gen den No­bel­preis für den Ja­pa­ner schon län­ger er­war­tet. Kathrin Burger

Unsichtbare Autos und Fahrstühle

Der Nobelpreis für Chemie geht dieses Jahr an drei Molekülforscher, die Maschinen im Nanoformat entwickelt haben: Den Preis teilen sich der Franzose Jean-Pierre Sauvage, der gebürtige Brite James Fraser ­Stoddart und Bernard Feringa von der Universität Groningen in den Niederlanden. Die drei Forscher haben aus nur wenigen Molekülen unter anderem eine Art Fahrstuhl, künstliche Muskeln und ein Miniauto hergestellt.

Noch gehören diese Forschungsarbeiten zur Grundlagenforschung, doch künftig könnten die molekularen Maschinen für neue Materialien, Sensoren oder Energiespeicher verwendet werden, teilte die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm mit. Die Preisträger seien in eine ganz neue Dimension der Chemie vorgedrungen, hieß es von den Juroren.

„Sie haben Moleküle entwickelt, deren Bewegungen man kontrollieren kann und die eine Aufgabe erfüllen, wenn sie die dafür nötige Energie bekommen.“

Durch diese Arbeiten seien andere Forscher inspiriert worden, darauf aufbauend weiterentwickelte Molekular-Maschinen zu bauen, darunter 2013 ein Roboter, der Aminosäuren ergreifen und verbinden kann. Für das menschliche Auge sind die künstlichen Maschinen unsichtbar. Sie sind über tausendmal kleiner als der Durchmesser eines Haares.

Den ersten Schritt machte der Franzose Jean-Pierre Sauvage, 71, an der Universität Straßburg im Jahr 1983: Er baute damals aus Molekülen zwei Ringe, die wie Kettenglieder zusammenhängen und sich wie diese locker bewegen können.

Auf diese Forschungsarbeiten aufbauend, entwickelte in den 1990er Jahren James Fraser Stoddart, 74, an der Northwestern University in ­Evanston, USA, molekulare Achsen und zugehörige Ringe, die darauf auf- und absteigen können – sogenannte Rotaxane.

Auf dieser Grundlage schufen er und sein Team winzige Aufzüge und künstliche Muskeln. Die Rotaxane nutzte Stoddart zudem, um Computerchips zu bauen, die zwar nur 20 Kilobyte speichern können, dafür aber viel kleiner sind als herkömmliche Chips. Einige Forscher glauben, dass diese Chips die Computerwelt einmal so revolutionieren könnten wie es einst die Transistoren taten.

Der Niederländer Bernard Feringa, 65, von der Universität Groningen baute schließlich als Erster einen molekularen Motor, der sich kontinuierlich in eine Richtung drehte. 2011 folgte sein „Nano-Auto“. Dazu montierten er und sein Team die Motoren als Antriebsräder an einen zentralen Träger. Das Fahrzeug sei nur rund einen Milliardstel Meter (Nanometer) lang, schrieben die Forscher im Wissenschaftsmagazin Nature. Es werde über die Spitze eines Rastertunnelmikroskops mit Strom versorgt und mit kurzen Spannungsimpulsen in Bewegung versetzt. Mit zehn Impulsen sei das Auto etwa sechs Nanometer weit über eine Kupferoberfläche gefahren.

„Die drei Nobelpreisträger haben dieses ganze Feld von molekularen Maschinen eröffnet“, sagte Nobel-Juror Olof Ramström. Damit habe eine „Revolution“ begonnen. „Die Entwicklungsstufe hier ist ähnlich der zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als viele Forscher zeigten, dass elektrische Maschinen möglich sein könnten. Die Zukunft wird zeigen, wie wir das hier anwenden können.“

Sauvage war völlig überrascht, als er von der Verleihung des Nobelpreises erfuhr. Dem französischen Sender iTele sagte er: „Es ist der prestigeträchtigste Preis, der Preis, von dem die meisten Wissenschaftler noch nicht einmal in ihren wildesten Träumen zu träumen wagen.“ wlf, dpa, ap