EU & Ungarn

Was wird aus der europäischen Flüchtlingspolitik? Wie geht es in Brüssel nach dem Referendum von Sonntag in Ungarn weiter?

Die Flüchtlingsquote ist gescheitert

EU Nach dem Ungarn-Referendum taucht die EU-Kommission ab und tut so, als sei nichts passiert. Wesentlich offensiver reagiert das EU-Parlament. Es will Mittwoch einen Neustart der europäischen Flüchtlingspolitik fordern

Große Frage: "Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des Parlaments die verpflichtende Ansiedlung von nicht ungarischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann?“

Kleine Zahl: Nach dem EU-Verteilungsschlüssel sollte Ungarn, das mehr als neun Millionen Einwohner zählt, gerade einmal 1.296 anerkannte Asylwerber ansiedeln.

Aus Brüssel Eric Bonse

War was? Nach dem umstrittenen Referendum in Ungarn tut die EU-Kommission so, als sei nichts passiert. Die Volksabstimmung zur EU-Flüchtlingsquote sei null und nichtig, erklärte der Sprecher von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Montag in Brüssel.

„Wir respektieren den demokratischen Willen des ungarischen Volkes – sowohl jener, die abgestimmt haben, als auch jener, die das nicht getan haben“, sagte er. Auswirkungen auf die gemeinsame Flüchtlingspolitik habe die Abstimmung nicht.

Dass Ungarns Regierungschef Viktor Orbán das Gegenteil behauptet und sein Land noch mehr abschotten will, scheint in Brüssel niemanden zu stören. Ähnlich wie in der britischen Brexit-Kampagne war die EU-Kommission auch vor dem ungarischen Referendum abgetaucht.

Wesentlich offensiver reagiert nun aber das Europaparlament. Orbán sei „klarer Verlierer“ des Referendums, sagt Reinhard Bütikofer von den Grünen. Da das Quorum von 50 Prozent Wahlbeteiligung verfehlt wurde, habe Orbán kein Mandat, die gemeinsame Flüchtlingspolitik weiter zu unterlaufen.

„Diese Abstimmung war kein demokratisches Volksbegehren, sie wurde vielmehr als patriarchalisches Herrschaftsinstrument missbraucht“, betont der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff. „Orban wollte sich für seine fremdenfeindliche Politik die Bestätigung abholen. Daraus ist eine Ohrfeige geworden.“

Am Mittwoch will das EU-Parlament noch weiter gehen und einen Neustart der EU-Flüchtlingspolitik fordern. Dazu müsse Druck auf die „Bremser und Blockierer“ ausgeübt werden, fordert Udo Bullmann von den Sozialdemokraten.

Doch ausgerechnet der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, zeigt sich nach dem Referendum in Ungarn konziliant. „Was wir jetzt brauchen, ist Dialog, um Lösungen zu bringen, nicht künstliche Spannungen“, sagt der prominente Sozialdemokrat. Damit spielt Schulz wohl auf Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn an. Der hatte Anfang September den Ausschluss Ungarns aus der EU gefordert und dabei auf die permanenten Verstöße gegen EU-Beschlüsse verwiesen.

Doch nach dem Brexit wollen sich Schulz und die meisten anderen EU-Präsidenten kein neues Drama leisten. Sie wissen, dass ein Ausschlussverfahren keine Chance hätte – und stellen sich daher auf einen Verbleib des renitenten Ungarns in der EU ein.

Doch wie soll es dann mit der Flüchtlingspolitik weitergehen? Orbán hat bereits angekündigt, sein Nein zu EU-weiten Quoten und einer Umverteilung der Asylbewerber per Verfassungsänderung festzuschreiben. Wie es aussieht, wird ihn niemand daran hindern. Ungarn denkt gar nicht daran, der EU entgegenzukommen.

Auch anderswo sieht es schlecht aus mit der Solidarität. Nicht einmal Deutschland hat „seine“ Quote erfüllt. Von den EU-weit vereinbarten 160.000 Menschen aus griechischen und italienischen Lagern wurden nur knapp 5.000 umverteilt. Ginge es in diesem Tempo weiter, wäre das Programm erst in 30 Jahren beendet.

Hinter den Kulissen hat daher längst ein Umdenken begonnen. Man könnte es auch als Rollback bezeichnen – als Rückkehr zu den (gescheiterten) Regeln, wie sie vor der großen Flüchtlingskrise 2015 galten. Zuerst, im Frühjahr, wurde „Dublin“ wieder in Kraft gesetzt – also jene Regel, derzufolge jenes EU-Land für Asylverfahren zuständig ist, in dem ein Flüchtling eintrifft. Damit ruht die Hauptlast wieder auf Griechenland und Italien.

Dann, beim EU-Gipfel in Bratislava im September, rückte die EU von der Umverteilung per Quote ab. In der gemeinsamen Erklärung, die auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel gebilligt wurde, ist von der Quote schon keine Rede mehr. Die neue Devise heißt „flexible Solidarität“ – jeder tut, was er kann und will.

Es wäre das Ende der gemeinsamen Flüchtlingspolitik, wie sie die EU-Kommission vor einem Jahr konzipiert hat. Behördenchef Juncker hat schon eine griffige Formulierung gefunden, die alles (oder nichts) möglich macht: Solidarität sei etwas Freiwilliges und müsse „von Herzen“ kommen, betont er neuerdings immer öfter. Will heißen: Verordnen oder gar erzwingen kann man Solidarität nicht, die Quote ist gescheitert.

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