WARUM ZEIGT MIR DER FRISÖR IN VORDINGBORG EIGENTLICH ALL DIE SCHICKEN KURZHAAFRISUREN, WENN ICH AM ENDE AUSSEHE WIE TÜRKISCHES MILITÄR?
: Über allem thront die goldene Gans

Foto: privat

Vogelfluglinie

von Rebecca Clare Sanger

Vordingborg fühlt sich anders an als vor gut drei Jahren, als ich ankam. Ungerührt türmen sich nach wie vor die riesigen Stadtmauerreste über dem Fjord. Die goldene Gans, die König Waldemar einst den Lübeckern zum Hohn auf den unbezwingbaren Burgturm setzte, sitzt immer noch da oben, statt etwa auf den satten Wiesen der Wallanlagen zu grasen. Doch, ja, das ist neu: Den Turm zu besteigen kostet jetzt 14 Euro.

In den Läden, die damals leer standen, finden sich nun Friseure, Süßigkeitenbars und – zu meiner Freude – ein Schneider. Die sonst so leeren Straßen sind voll mit ehemaligen Mitschülern, deren Namen und genaue Herkunft ich nicht kenne – war’s Aleppo, war’s Damaskus? Und der Mann da, mit dem Hamburger in der Hand: War das nicht der ewig schwänzende, schöne Jüngling aus dem Dänisch-Grundkurs? Falls sie immer in Vordingborg noch um fünf die Bürgersteige hochklappen, gibt es nun wenigstens Menschen, die erst noch davon vertrieben werden müssen.

Und noch was Neues: Die Preise beim Friseur sind dramatisch gefallen. Ich wähle den Allerbilligsten, der Chiropraktiker hat schon so viel Geld gekostet, und lasse mir eine Papierkrawatte um den Hals binden. Der Mann, der hinter mir in der roten Sitzpolsterreihe sitzt, kommt mir bekannt vor – saß er nicht in den neuen Schulgebäuden, als ich zu meiner Prüfung musste? Er spricht nur Englisch, kein Dänisch, auch wenn er schon ein Jahr da ist, irgendwie wundert mich das nicht, die neuen Schulgebäude sind auch wirklich zum Kotzen.

Das angebotene dänische Asyl hat er ausgeschlagen, erfahre ich, und dass er hofft, sich als Gynäkologe niederlassen zu können, in der Türkei vielleicht. Studiert hat er in Rumänien, ein sehr freundliches Land sei das – leider nehmen sie dort nur keine Flüchtlinge auf.

Mir sitzen die missglückenden Integrationsversuche mit meinen dänischen Freunden und Bekannten noch im Nacken. Allzu enthusiastisch stimme ich also ein in die Beobachtungen über dänische Gastlichkeit, Knauserigkeit, Verschlossenheit, und vergesse darüber darauf zu achten, was gerade in meinem Nacken und an meinem Hinterkopf vor sich geht.

Gerade als ich merke, dass mein Gesprächspartner genauso kompliziert ist wie ich – und auch so selbstgerecht – , als er sich verabschiedet und mir alles Gute wünscht, genau da setze ich zu sagen an: „Nicht so viel wegschneiden, nicht so viel weg, braucht nicht so kurz, nur die Ohren freilegen, nur die Ohren“, und ich hoffe, dass die just angebrochenen fünf Minuten genauso wenig Konsequenzen haben mögen wie die meisten fünf Minuten in meinem bisherigen Leben. Aber es ist zu spät.

Warum zeigt mir der Frisör, ein Türke, überhaupt all die Kurzhaarfrisuren all der schicken Modelle – und am Ende sehe ich aus wie aus wie Militär, türkisches?

Viel zu schnell fahre ich zurück nach Møn. Traue mich kaum in den Rückspiegel zu kucken, falls der nicht nur die Autos hinter mir zeigt, sondern auch meinen nackten Kopf; fahre zu Fatma und Refat, den einzigen Leuten, zu denen ich unangekündigt kommen kann und trotzdem empfangen werde, und das nach drei Jahren hier.

Fatma findet es sehr lustig, sich vorzustellen: Ich, die Europäerin, gehe bei ihr ein und aus, oder vielmehr: ohne Kopftuch rein – und mit wieder heraus. Sie zeigt mir aber trotzdem mit erfahrenen Händen Knoten und Schlingen. Nun also blumig-bedeckten Kopfes gehe ich zum Auto in der Einfahrt, treffe prompt den Vermieter, den fremdenfeindlichen Piloten. Wir grüßen uns kurz. Behäbig und mit bedecktem Kopf setze ich mich ins Auto. Er lässt sich nichts anmerken.

Rebecca Clare Sanger pendelt mit Mann und Kindern zwischen Hamburg und der dänischen Insel Møn; was sie dabei erlebt, steht alle zwei Wochen an dieser Stelle.