Labour

Jeremy Corbyn setzt sich bei Urwahl gegen den Herausforderer Owen Smith durch und bleibt Chef der britischen Sozialdemokraten

Der alte, neue Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn feiert in Liverpool seinen Sieg bei der Urabstimmung Foto: Danny Lawson/ap

Ein Olivenzweig für die Verlierer

Richtungsstreit Labour-Basis bestätigt Vorsitzenden nach wochenlang erbittert geführten Wahlkampf mit 62 Prozent der Stimmen im Amt, der Kandidat des Partei-Establishments kommt auf 38 Prozent. Doch damit ist die Auseinandersetzung nicht beendet

Aus Liverpool Ralf Sotscheck

Der Saal ist längst nicht voll, als Jeremy Corbyn und Owen Smith am Samstagmittag vor der Verkündung des Ergebnisses die Bühne im Konferenzzentrum von Liverpool betreten. Viele Delegierte und Gäste stehen noch nebenan im Foyer der Echo Arena nach ihren Besucherpässen an, die meisten Smith-Anhänger sind der Veranstaltung ferngeblieben, weil das Ergebnis im Grunde feststand.

Die Menschen im Konferenzsaal feiern Corbyn mit stehenden Ovationen. In seiner Dankesrede beschwört er die Einheit der Partei. „In der Hitze des Gefechts sind auf allen Seiten Worte gefallen, die man später bereut hat“, sagt er. „Aber denkt immer daran, dass wir mehr gemein haben, als uns trennt. Was mich betrifft, so machen wir heute einen neuen Anfang.“

Rückkehr nur nach ­Kompromissen

Er sei stolz auf die offenen Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten, die notwendig für eine Partei seien, die das Leben der Briten zum Besseren wenden wolle, sagt er. Eine „ganze Menge Abgeordnete“ haben ihn kontaktiert und wollen ihn unterstützen, sagt Corbyn – „auch diejenigen, die im Sommer zurückgetreten sind“. Seine Gegner, so behauptet eine Delegierte, sollen jedoch Rückkehrwillige gewarnt haben, ins Schattenkabinett einzutreten, bevor Corbyn Kompromissen zugestimmt habe.

Seit seiner überraschenden Wahl zum Parteichef vor einem Jahr hat der rechte Parteiflügel versucht, Corbyn wieder loszuwerden. Unter dem Vorwand, er habe sich vor dem Brexit-Referendum nicht genügend für den Verbleib in der EU eingesetzt, sprachen ihm 172 Labour-Abgeordnete das Misstrauen aus. Als er sich weigerte, zu gehen, suchten sie einen „ABC-Kandidaten“ – „Anyone But Corbyn“ – und fanden ihn in Owen Smith, dem man am ehesten zutraute, Corbyn zu besiegen, weil er etwas links von der Parteimitte steht.

In Wirklichkeit hatte der Herausforderer nie eine Chance. Seit Corbyns Amtsantritt vor einem Jahr hat sich die Zahl der Parteimitglieder verdoppelt, Labour ist mit mehr als 500.000 Mitgliedern die größte Partei in Westeuropa. Und die meisten sind wegen Corbyn eingetreten.

Louise Ellman spricht deshalb von Infiltration. Sie ist seit 1997 Abgeordnete für Liverpool-Riverside. Zu ihrem Wahlkreis gehört das Konferenzzentrum im Kings Dock, wo der Parteitag stattfindet. Die Docks, wo vor zehn Jahren der vergebliche Streik der Hafenarbeiter begann, sind inzwischen mit Milliardensummen aufgehübscht worden, es ist die wichtigste Touristenattraktion Liverpools mit Restaurants, Riesenrad, Tate-Galerie und Beatles-Museum.

Ellman ist recht klein und schlank, sie sieht weit jünger aus als 70. Sie trägt einen lila Blazer und schwarze Hosen, über der Schulter hängt eine große blaue Einkaufstasche. Ellman war für den Irakkrieg, und sie ist für Atomwaffen. Deshalb ist sie gegen Corbyn – aber sie akzeptiert das Ergebnis. „Es ist eine Chance“, sagt sie. „Jeremy muss auf die Abgeordneten zugehen, schließlich sind die ja von der Öffentlichkeit gewählt worden.“

Der Vorsitzende benötige nicht nur die Unterstützung der Parteimitglieder, sondern auch der Fraktion, wenn er Premierminister werden wolle, sagt Ellman: „Wenn er das Ergebnis aber lediglich als Bestätigung seiner bisherigen Vorgehensweise interpretiert, wäre das ein Fehler.“

Der Labour-Chef weiß das. Auf dem Fensterbrett seines Büros im Londoner Unterhaus wächst ein Olivenbäumchen, sagt Jeremy Corbyn. „Und einen Zweig davon möchte ich meinen Gegnern reichen.“

Neues Vertrauen kommt nicht über Nacht

Als der alte, neue Parteivorsitzende längst durch den Hinterausgang verschwunden ist, debattieren viele Delegierte noch über das Ergebnis. Ein schwarzer Abgeordneter, etwa Mitte 40, glaubt, es werde einige Zeit dauern, bis das Vertrauen wieder hergestellt sei. „Das kommt nicht über Nacht“, sagt er. „Beide Seiten haben Fehler gemacht. Aber Jeremy hat nun zwei Mal gewonnen, und jetzt haben hoffentlich alle genug von dieser Schmierenkomödie.“

Herausforderer Owen Smith hört die Resultate Foto: Peter Nicholls/reuters

Bei dem Abgeordneten handelt es sich um Clive Lewis. Der 45-jährige hat die Haare auf Millimeterlänge gestutzt, er trägt weite Jeans und einen engen blauen Pullover. Wie ein Verteidigungsminister im Schattenkabinett sieht er nicht aus, doch genau das ist er seit Kurzem. Viele Delegierte kennen ihn deshalb noch nicht.

Lewis ist seit vorigem Jahr Abgeordneter für Norwich. Er hat Wirtschaft studiert, später war er BBC-Reporter, 2006 wurde er Offizier in der Armeereserve und kämpfte 2009 drei Monate lang in Afghanistan. Er war einer der Abgeordneten, die Corbyns Kandidatur zum Parteichef 2015 unterstützt haben. Als nach dem Brexit-Referendum im Juni 60 Abgeordnete aus Corbyns Team zurücktraten, wurde Lewis ins Schattenkabinett berufen.

Kann Corbyn Premierminister werden? „Ja, natürlich“, sagt Lewis. „Vor der Wahl zum Labour-Chef hat voriges Jahr auch niemand geglaubt, dass er gewinnen könnte.“ Man müsse auf dem Parteitag damit anfangen, diejenigen Punkte in den Vordergrund zu rücken, bei denen die Labour Party besonders überzeugend sei: Gesundheit, Bildung, Transport. Dann könne man auch die „reaktionärste Tory-Partei seit zwei oder drei Generationen“ besiegen, sagt Lewis.

Spaltung nicht ­ausgeschlossen

Voraussetzung dafür sei aber die Einheit der Partei. Eine Spaltung will Lewis dennoch nicht ausschließen. „Nach diesem Sommer der internen Kämpfe ist alles möglich“, sagt er, „doch dann wäre Labour irrelevant, und wir hätten einen Ein-Parteien-Staat.“ Das werden Corbyns Gegner nicht riskieren, hofft er.

Und eine Abwanderung zu anderen Parteien? Eine Delegierte, die ungenannt bleiben möchte, sagt, dass manche in die Co-operative Party überlaufen könnten. Die ist 1917 gegründet worden und hat mit Labour einen Pakt geschlossen, einander bei Wahlen keine Konkurrenz zu machen. Ihre Kandidaten treten unter dem Banner „Labour and Co-operative Party“ an, derzeit sitzen 26 von ihnen im Unterhaus. Darüber hinaus ist die Partei auch im Oberhaus sowie im schottischen und walisischen Regionalparlament vertreten. Sie ist die viertstärkste Partei in Großbritannien. Wenn sie ein paar Dutzend Überläufer aufnehme, könnte sie eine eigene Fraktion bilden und ihre eigene Politik machen, meint die Delegierte.

Corbyns Gegner hatten alles mögliche versucht, um seine Bestätigung im Amt zu verhindern. Zunächst verlangten sie, dass er von mindestens 20 Prozent der Fraktion, also von 51 Abgeordneten, nominiert werden müsse. Die hätte er nie und nimmer zusammenbekommen, doch der zuständige Parteiausschuss erklärte, dass der Amtsinhaber automatisch kandidieren dürfe. Alles andere hätte eine Revolte der Parteibasis ausgelöst.

Dann versuchte man die Mitglieder, die erst nach Januar dieses Jahres in die Partei eingetreten sind, von der Wahl auszuschließen. Das wurde von einem Gericht verworfen. Schließlich lehnte man so manchen Antrag mit fadenscheiniger Begründung ab, wenn der Verdacht bestand, dass der Antragsteller für Corbyn stimmen würde.

So durfte eine Catherine Starr zum Beispiel nicht Labour-Mitglied werden, weil sie sich auf ihrer Facebook-Seite als Fan der Rockband Foo Fighters bezeichnet hatte. Das sei mit den Prinzipien der britischen Sozialdemokratie nicht vereinbar, hieß es in der Ablehnung ihres Mitgliedsantrags.

Der linke Generalsekretär der Bäcker-Gewerkschaft, Ronnie Draper, durfte ebenfalls nicht beitreten, wohl aber Lord Sainsbury, obwohl er den Liberalen Demokraten – einer konkurrierenden Partei – Anfang des Jahres zwei Millionen Pfund gespendet hat. Sainsbury ist ein „Blairite“, er stimmt mit dem früheren Premierminister Tony Blair politisch überein. Der hat in einem Interview erklärt, dass es ihm lieber wäre, wenn Labour die Wahlen verliere, als dass die Partei mit Corbyn an die Macht käme. Der Labour-Vorstand hat vor Kurzem das Wort „Blairite“ unter Androhung von Sanktionen verboten, weil es meistens als Beleidigung gemeint ist.

Herkunft: Jeremy Bernard Corbyn wurde am 26. Mai 1949 in Chippenham, Wiltshire geboren. Der Vater war Elektroingenieur, die Mutter Lehrerin.

Werdegang: Schon als Schüler trat Corbyn den Young Socialists und Labour bei. Seit 1983 ist er Abgeordneter des Unterhauses.

Positionen: Seit Erwachen seines politischen Interesses setzt sich Corbyn in und außerhalb der Labour-Partei für nukleare Abrüstung, Tierrechte, sexuelle Minderheiten und die Unabhängigkeit Irlands und Palästinas ein – und gegen Apartheid, Justizirrtümer und Deindustrialisierung.

Ernährung: Corbyn ist Vegetarier und trinkt selten Alkohol.

Hobbys: Rennen, Fahrrad fahren, Englands Nationalsport Cricket und der Fußballclub Arsenal London. Corbyn ist Liebhaber der Werke des irischen Dichters W. B. Yeats und des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe. Er spricht fließend Spanisch.

Privates: Corbyn lebt mit seiner dritten Ehefrau Laura Alvarez zusammen. Er hat drei Söhne aus früheren Ehen. (rr)

Selbstsicherer und ­konzessionsbereiter

Aber „Corbynista“ ist nach wie vor erlaubt. Der Labour-Chef ist seit seinem Amtsantritt selbstsicherer, aber auch konzessionsbereiter geworden, das merkte man bei seiner Rede am Samstag, und auch bei den Debatten im Unterhaus, bei denen er in letzter Zeit die Premierministerin Theresa May mehrmals in die Enge treiben konnte.

„Die letzten Monate waren ein Lernprozess“, sagt Lewis, „und jetzt hat Jeremy seinen Gegnern die Hand ausgestreckt.“ So widersprach der Vorsitzende einigen seiner Verbündeten, die angedroht hatten, dass Gegner des Parteichefs bei den nächsten Parlamentswahlen nicht für Labour kandidieren dürften. Corbyn betonte am Samstag ausdrücklich, er hoffe, dass die Labour-Ortsverbände die amtierenden Abgeordneten unterstützen.

Ob das alles reicht, um den Parteifrieden dauerhaft zu sichern? Colin Wilson, Parteimitglied aus Nordengland, ist skeptisch. „Corbyns Gegner könnten versuchen, in den Unterhaus-Ausschüssen Posten zu besetzen und dort ihre eigene Politik zu betreiben“, sagt er, „während sie Corbyn von den Hinterbänken Knüppel zwischen die Beine werfen, wo sie nur können.“ Mit einem solchen Zermürbungskrieg könnten sie den Boden für einen neuen Coup vor den Wahlen 2020 bereiten, fürchtet Wilson.

Am Dienstag weiß man mehr, wohin die Labour-Reise gehen wird. Dann will der Parteiausschuss, der die Parteipolitik bestimmt, zu einer „wegweisenden Sitzung“ zusammentreten.