Berliner Architektur: Neuland im Osten

Auf zwölf Rundgängen führt der neue „Architekturführer Berlin“ durch die Stadt. Dass er sich dabei weit in den Ostteil Berlins hinein verirrt, macht das Buch umso lohnender.

Im Buch wird der Ostberliner Plattenbau vorgestellt: hier das Haus des Lehrers Foto: Dominic Schendel

Es ist kein sensationeller Fund, aber eine Entdeckungsreise, auf die der neue „Architekturführer Berlin“ von Autor Dominik Schendel und Herausgeber Philipp Meuser die Flaneure am Ende schickt: „Wer fernab der bekannten Routen Neuland entdecken möchte, kann sich bei Rundgängen durch den Zoo und den Tierpark sowie zu den Plattenbauten im ehemaligen Ostteil der Stadt überraschen lassen“, schreibt Meuser in dem 500-Seiten-Wälzer. „Denn wie keine andere Stadt in Deutschland verfügt Berlin über eine solche Vielfalt beim Bauen für Tiere und beim industriellen Wohnungsbau.“

Dass dem Leser hier der böse Vergleich von den „WBS-70-Karnickelställen“ des ungeliebten sozialistischen Städtebaus in den Sinn kommen könnte, sei den Autoren geschenkt. Viel bedeutsamer ist, dass diese den baulichen Blick auf die beiden Berliner Zoos – DDR-Moderne in Friedrichsfelde versus kaiserliche Art-déco-Tempel des Zoologischen Gartens – schärfen und die mit viel Ideologie besetzte Geschichte der Tierhäuser erstmals für eine Berliner Architekturreise aufblättern.

Ebenso interessant ist es, wie die „wechselvolle Geschichte“ der Plattenarchitekturen Ostberlins in dem Architekturführer aufgemacht ist. Es geht durch die ostigsten Parts des Ostens, muss man doch per pedes und per U-Bahn acht Kilometer von Mitte bis Marzahn zurücklegen. Auf der Strecke wird einem die Genesis von den ersten großen „Tafelbauten“ der 1960er Jahre in der Karl-Marx-Allee über die „seriell“ gefertigten Hochhäuser auf der Fischerinsel und am Leninplatz (beide 1970) bis hinaus in die triste Welt der Großsiedlungen der 1980er erzählt. Zur „Platte“, erinnert Schendel, gehört aber auch deren verspielte, postmoderne Variante wie die am Gendarmenmarkt (1986). Die „Platte“ war also nicht nur Ausdruck purer Ökonomisierung des Wohnungsbaus.

Berliner Architekturführer sind Legion. Trotz umfangreicher Bücher wie der „Dehio“ oder bekannter Bände wie die von Stadtwandel oder aus dem Reimer-Verlag boomt der Markt und wird ständig um ein Vielfaches ergänzt von Sachliteratur aus dem Netz und im Netz.

Kritische Essays

Auch der „Architekturführer Berlin“ bedient sich mittels eingestellter QR-Codes zur Lokalisierung der über 200 vorgestellten Bauwerke dieser Neuerungen. Sonst hält sich das Konzept mit seinen Tagestouren, den sachlichen Objektbeschreibungen, kritischen Essays, Fotos, Grafiken und historischen Karten an die klassischen Parameter der Architekturführer-Reihe aus dem Hause DOM publishers. Was gut ist und sich wohltuend von den modischen Kiezspaziergängen unterscheidet. Bei DOM schreiben „Architekten für Architekten“, Meuser konnte neben Schendel den Kritiker Hans Wolfgang Hoffmann oder Berlins früheren Baudirektor Hans Stimmann als Autoren gewinnen.

Die Exkursion hinaus zu den Plattenbauten ist kein Unikum. Die gute Idee multiplizierte Schendel, indem er acht der „zwölf Rundgänge durch die deutsche Hauptstadt“, so der Untertitel, nur durch Ostberlin führt und die Touren jeweils mit einem thematischen Bezug unterlegt. So offenbart die erste Führung „Unter den Linden“ die Baugeschichte eines sich von 1750 bis dato stetig wandelnden Boulevards, der immerzu radikal verändert wurde und von dem kaum ein Stein auf dem anderen blieb. Das überrascht.

Die „Platte“ war nicht nur Ausdruck purer Ökonomisierung des Wohnungsbaus

Auch die Kapitel „Entlang der Mauer“ (vom Potsdamer Platz bis zur East-Side-Gallery) und „Stadtkern“ mit den Architekturen aus den 1960er Jahren rund um den Alexanderplatz – wie das „Haus des Lehrers“ – oder der Weg entlang der „Stalinallee/Karl-Marx-Allee“ beleuchten den Wandel jeweils ganzer Stadtbezirke. Gleich mehrere Ideologie- und Systemwechsel – Wilhelminismus, die Weimarer Zeit und NS-Diktatur, die DDR-Moderne und deren Erstarrung sowie das „Neue Berlin“ nach 1989 – spiegeln sich in dem Bestand, in den Neubauten und Architektursprachen in der City-Ost wider. Beständig ist scheinbar nichts. Berlin besteht aus einer Collage, folgern Schendel und Meuser: „Berlin zählt zu den deutschen Städten, die am intensivsten immer wieder durch Planungen überformt wurden. Mit jedem politischen oder wirtschaftlichen Aufbruch sollte auch die alte Stadt erneuert werden.“

Dass Schendel und Meuser auch in den Westen der Stadt führen, mit Touren über den Kurfürstendamm oder das Messegelände bis hinaus bis zum Olympiastadion, rundet den Blick auf die Brennpunkte der alten und neuen Berliner Architekturgeschichte zwar ab, ist aber nicht folgerichtig.

Denn man hätte durchaus im Osten verweilen können, seine Geschichte hat noch genug Leerstellen. Meuser zeigt sich enttäuscht von der dortigen Architektur nach 1989: „Die gelungenen Beispiele lassen sich auf drei Dutzend zusammenstreichen.“ Erst seit kurzer Zeit sorgten Architekten wieder für frischen Wind auf den Baustellen. Wo diese zu finden sind, verrät der sonst so aufschlussreiche Architekturführer kaum. Auf diese Touren müssen wir also noch warten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.