ZEIT.ORTE

Alem Grabovac, 42 Jahre, freier Autor und Journalist, lebt seit 1999 in Berlin-Prenzlauer Berg. Grabovac arbeitet gerade an einem Roman, der in einer Zeit spielt, als die Speedy-Gonzales-Filme im deutschen Fernsehen unter dem Titel „Die schnellste Maus von Mexiko“ erstausgestrahlt wurden.

Speedy Gonzales

Alem Grabovac

Ich spaziere sehr oft zu meiner Bank. Meine Bank heißt „Notaufnahme“. Genauer gesagt heißt der Frisörladen, zu dem meine Bank gehört, „Notaufnahme“. Früher hing links neben dem Eingang noch ein Schild mit der Aufschrift: „Notaufnahme: Termine nach Vereinbarung“. Bedauerlicherweise fiel das „Termine nach Vereinbarung“ der letzten Modernisierungsmaßnahme zum Opfer. Jetzt steht auf dem Schild nur noch „Notaufnahme“.

Ich brauche 20 Minuten, um zu meiner Bank zu kommen. Meine Bank steht in der Kastanienallee in Berlin-Prenzlauer Berg. Tagsüber hocken nur hippe und trendige Boys und Girls mit einer Modezeitschrift oder handtuchumwickelten Haar auf ihr herum. Aber ich gehe nur in der Nacht zu meiner Bank und in der Nacht hat der Frisörladen zu und deswegen ist es dann meine Sitz-und Denkbank.

Als ich das neue Schild ohne die „Termine nach Vereinbarung“ zum ersten Mal sah, war ich richtig sauer. Die Eigentümer des Frisörladens hatten ohne Not ein Stück Alltagspoesie vernichtet. Kurz habe ich mir sogar überlegt, einen bitterbösen Brief an die Eigentümer zu schreiben. Wissen Sie, es gibt so viele Alltagspoesievernichter. Die Deutsche Post ist zum Beispiel auch so ein Alltagspoesievernichter. Jahrelang bin ich immer fröhlich an den gelben Briefkästen vorbeiflaniert. Links stand „Berlin“ und über dem rechten Schlitz „Andere Richtungen“. Und wie habe ich dieses „Andere Richtungen“ geliebt. Dieses „Andere Richtungen“ hatte Weite, war verträumt, war ein Möglichkeitsspielraum für die Fantasie. Aber was haben diese Vollidioten von der Deutschen Post gemacht? Peu à peu haben sie die „Andere Richtungen“ durch „Andere Postleitzahlen“ ersetzt. Das ist doch eine Frechheit, eine bodenlose Sauerei, eine geradezu brutale Auslöschung von Alltagspoesie.

Aber gut, ich will nicht undankbar sein. Immerhin heißt der Frisör, zu dem meine Bank gehört, immer noch „Notaufnahme“. Und für eine Sitz- und Denkbank ist dies ein absolut angemessener Name. Ich gehe also immer nachts zu meiner Bank, lasse mein Smartphone zu Hause, kaufe mir ein Bier beim Späti nebenan, beobachte die Passanten, lasse die Straßenbahnen an mir vorbeirauschen und tue nichts. Die „Notaufnahme“ ist für mich ein geradezu heiliger Ort der Kontemplation und Entschleunigung.

Wissen Sie, früher, da dachte ich noch, dass es da draußen in der Welt weiß Gott was zu erobern gebe, früher, da bin ich noch durch diese Stadt mit all ihren urbanen Versprechungen gehetzt. Aber das ist schon lange vorbei. Jetzt sitze ich nur noch auf meiner Bank und tue nichts.

Ich liebe meine Bank, habe sogar einen Freund in der „Notaufnahme“ gefunden. Mein kleiner Freund ist eine Maus. Nacht für Nacht flitzt sie um meine Schuhe herum. Ich habe, da ich nun einmal fernsehsozialisiert bin, meine kleine Maus „Speedy Gonzales“ genannt. Manchmal, wenn ich so dasitze und nichts tue, frage ich sie: „Und Speedy Gonzales, wie war dein Tag? Wie läuft es so im Leben?“ Mehr rede ich nicht mit meiner Maus. Ich bin ja nicht verrückt. Einsam bin ich auch nicht. Ich habe sogar eine kleine Familie. Wissen Sie, ich genieße ganz einfach die Ruhe auf meiner Bank.