BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Es lebe die Enthaltsamkeit!

In meiner Zeit als Ost-Hippie gab’s keine „freie Liebe“ – aber die haltbare, platonische

Die besten Geschichten schreibt, ob hüben oder drüben, immer noch das Leben. Vor einigen Tagen blätterte ich in alten Fotoalben. Ich war auf der Suche nach Bildern aus meiner Hippie-Zeit in der DDR, weil ich das Gefühl habe, dass der Osten für viele Westler immer noch ein Buch mit mindestens drei Siegeln ist. Warum sonst ist das Erstaunen darüber so groß, dass es auch bei uns Trampern lange Haare, Parkas und Saufen gegen das System gab? Zwar hatten wir mit der Kultband Renft unsere eigenen Rolling Stones, aber natürlich haben wir auch so Leute wie Bob Dylan gehört. Ich war sogar im Besitz eines Dylan Notebook, ätsch. Es wog nur ungefähr drei Kilo mehr als das Original, weil mein Vater das Heft, das nicht mir gehörte, Seite für Seite abfotografiert hatte.

Aber ich schweife ab. Ich blätterte also durch mein Fotoalbum und sah Bilder von „Kunden“, so nannten wir uns mit unseren „Tramper“-Schuhen, diesen braunen Wildlederschuhen mit flacher Ledersohle, Latzhosen, Stirnbändern und aus alten Sofakissen genähten Taschen: Kunden mit Spitznamen wie Wildsau, Plette oder Big Zwille auf Blueskonzerten, in Prag, in Budapest, an sächsischen Baggerseen, beim Trampen in Rumänien und Bulgarien. Natürlich gab es auch Fotos, auf denen zu erkennen war, dass auch im Osten Schlafsäcke nicht nur zum Schlafen benutzt wurden. Aber freie Liebe ist etwas, was in meinem durchaus aufregenden Leben fehlt. Dafür lernte ich mit Anfang 20 die platonische Liebe kennen.

In dem Leipziger Studentenklub „Moritzbastei“ war mir Anfang der 80er ein sehr sympathischer Typ über den Weg gelaufen. Damals fand ich Studenten langweilig und stand auf ältere Männer, die den Unischeiß schon hinter sich hatten. Er war so ungefähr in dem Alter und trug so eine runde John-Lennon-Brille. Leider entpuppte er sich als ähnlich treue Seele. Da war nichts zu machen. Als er seine Yoko Ono heiratete und mit ihr zusammenzog, durfte ich in seine Junggesellenbude einziehen. Angesichts der Wohnungssituation immerhin ein Trost.

Die DDR-Hippie-Fotos langweilten mich bald. Überall hingen lange Haare herum und meistens waren wir so betrunken, dass ich allein vom Anschauen einen schweren Kopf bekam. Da war es geradezu eine Erholung für meine Augen, als ich ein Bild meiner platonischen Liebe entdeckte. Gottfried Probst hatte ich darunter geschrieben. Einige Jahre vor dem Mauerfall war er in den Westen gegangen. Seitdem haben wir nichts mehr voneinander gehört.

Während ich bei Wildsau, Plette oder Big Zwille gar nicht wissen will, was aus ihnen geworden ist, interessierte mich das Schicksal von Gottfried Probst durchaus. Schließlich hatte er mich damals abblitzen lassen. Im Internet fand ich unter diesem Namen einen Schuldirektor in Mittelfranken, einen pensionierten Schulhauswart in der Schweiz und einen Verlagsleiter in Paderborn. Als ich das Foto des Verlagsleiters anklickte, sprang mir eine kleine, runde Brille entgegen. Ich bildete mir ein, gewisse Ähnlichkeiten zu erkennen, und schrieb am Montagabend eine Mail, in der ich fragte, ob er der sei, in dessen Wohnung ich damals und so weiter und so fort.

Am nächsten Morgen rief Gottfried Probst an. „Mensch, die Barbara!“, rief er, „die Frau mit den längsten Beinen.“ Für eine platonische Beziehung fand ich das ziemlich verwegen. „Die sind sogar noch gewachsen!“, rief ich so laut in den Hörer, als hätte ich mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass ich 24 Stunden am Tag in bester Qualität auch über weite Entfernungen telefonieren kann. Obwohl wir seit zwanzig Jahren nichts voneinander gehört haben, hat unsere platonische Beziehung die Zeit unbeschadet überstanden. Es war eine sehr anregende Unterhaltung.

Doch dann kam eine Mail mit dieser Frage: „Hörst du wohl noch die Musik von Renft? Sag bloß nicht nein, ich wäre enttäuscht!“ Ich musste ihn leider enttäuschen. Aber er hat mich damals ja auch enttäuscht. Jetzt sind wir quitt. Ein guter Beginn. Wofür auch immer.

Fragen an Platon? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN