„Es ist okay, nicht zu den Besten zu zählen“

Erfolg oder MIsserfolg Jana Sussmann wollte beim olympischen 3000-Meter-Hindernislauf an den Start gehen, verpasste aber in letzter Minute die Qualifikation. Statt sich zurückzuziehen, spricht die 25-Jährige über ihre Gefühle

Will mehr als nur Laufen: Jana Sussmann Foto: Melina Mörsdorf

Interview Annika Lasarzik

taz: Frau Sussmann, erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie erfahren haben, dass Sie nicht mit zu Olympia dürfen, weil eine andere Läuferin eine bessere Zeit gelaufen war als Sie?

Jana Sussmann: Die Situation wirkt im Nachhinein absurd. Es war Samstagabend, ich saß im Hotelzimmer in Amsterdam, wo ich gerade an der Leichtathletik-EM teilgenommen hatte, und habe Quizduell auf dem Handy gespielt. Ich wusste, dass meine Konkurrentin Sanaa Koubaa am gleichen Abend einen Wettkampf lief und mich noch aus dem Rennen schlagen könnte. Meine Zimmernachbarin verfolgte diesen Lauf im Live-Ticker, plötzlich umarmte sie mich ohne Worte. Da war mir klar: Das war’s jetzt mit Rio. Und dann brummte auch schon mein Handy, Nachrichten von Freunden und Familienmitgliedern gingen ein.

Es war ein Riesen Batzen Enttäuschung, der auf mich draufklatschte“ – so beschrieben Sie diesen Moment später. Wie verarbeitet man so einen Schock?

Dafür gibt es kein Rezept, jeder geht mit einer Niederlage anders um. Anfangs nahm ich alles wie in Trance wahr. Ich weiß noch, dass die Tagesschau lief, ich wie gebannt auf den Fernseher starrte, aber gar nicht mitbekam, was da auf dem Bildschirm passierte. Ich ging auf den Balkon und erst dort, als ich ganz allein war, habe ich Rotz und Wasser geheult. Irgendwann habe ich dann Notizblock und Stift geholt und meine Gedanken aufgeschrieben, irgendwo mussten die Gefühle ja hin.

Ist so der Text entstanden, den Sie auf Twitter veröffentlicht haben? In einem sehr persönlichen Essay beschreiben Sie dort, wie sich Ihre Niederlage für Sie angefühlt hat.

Einige Sätze habe ich übernommen, andere habe ich gestrichen, weil ich sie später schon nicht mehr so empfunden habe. Am ersten Abend und auch an den nächsten Tagen haben sich Phasen von Wut, Trauer, Selbstmitleid, Hoffnung abgewechselt: Das hat sich so ähnlich wie Liebeskummer angefühlt.

Hatten Sie beim Schreiben des Textes das Gefühl, ein Tabu zu brechen? Dass Sportler so offen über Niederlagen sprechen, ist selten.

Mir ist bewusst, dass viele Sportler in solch einem Moment eher schweigen. Eben weil der Sport sehr leistungsorientiert ist – ich kenne sehr viele Kollegen, die nach einem schlechten Lauf tagelang deprimiert sind, sich abschotten, niemanden sehen wollen. Das konnte ich noch nie nachvollziehen. Ich bin ein fröhlicher, optimistischer Mensch. Ich versinke nicht lange im Selbstmitleid und mache mir Vorwürfe, weil ich mal keine gute Leistung gebracht habe.

Trotzdem sind Sie mit Ihrem Text direkt an die Öffentlichkeit gegangen. Warum?

Zum einen war es Teil der Verarbeitung: Darüber zu sprechen und gehört werden, hat gut getan. Und ich wollte ein Zeichen setzen: Nicht nur im Kontext von Olympia wird in den Medien ja ausschließlich über Erfolge berichtet, über gewonnene Medaillen. Ich kann es oft nicht fassen, wenn ich abwertende Schlagzeilen über Sportler lese, die eine gute Leistung gebracht, aber eben „nur“ auf dem vierten oder fünften Platz gelandet sind. Das ärgert mich. Und mit dem Text wollte ich zeigen: Es ist okay, nicht zu den Besten zu zählen, auch wenn es erst mal niederschmetternd ist. Man kann trotzdem weiter nach vorn schauen.

Der Text wurde hundertmal geliked, Medien haben darüber berichtet. Hat Sie diese Resonanz überrascht?

Total! Nachdem ich den Text gepostet habe, war ich beim Open-Air-Kino im Hamburger Stadtpark. Mein Handy blieb nicht mehr still, so viele Nachrichten und Kommentare habe ich bekommen. Da gab es natürlich wieder viel Beileid, aufmunternde Sprüche – aber eben auch Menschen, die sagen: Echt gut, dass du das mal ansprichst. Das zeigt schon, dass nicht alle damit zufrieden sind, dass in unserer Leistungsgesellschaft oft nur über Erfolge gesprochen wird.

Haben Ihnen Beileidsbekundungen in der Situation geholfen?

Nein, Sprüche wie „Vielleicht wird es ja in vier Jahren was!“ oder „Kopf hoch, immerhin bist du gesund!“ waren nicht gerade eine Aufmunterung. Im ersten Moment fühlst du nur diese Enttäuschung, da willst du so etwas nicht hören. Aber Fans haben mir Nachrichten via Twitter geschickt: Dass ich nicht aufgeben soll, dass sie mich wieder laufen sehen wollen. Das hat mich motiviert.

Und welche Reaktionen kamen aus dem Sport?

Da gab es eher wenig Resonanz. Dass sich Trainer und Kollegen, die zu den Olympischen Spielen fahren, erst mal auf den Wettkampf konzentrieren, ist normal. Vom Team Hamburg habe ich allerdings nur einen Brief bekommen: „Das war’s, Sie sind nicht mehr dabei“, so etwas. Das ist enttäuschend, über ein paar persönlichere Worte hätte ich mich gefreut. Eine Kollegin, die aufgrund einer Verletzung auch nicht nach Rio fahren konnte, hat mich getröstet, meinen Text geteilt. Und viele Sportler haben mich gefragt, ob ich nach der Niederlage das ganze Training für die Saison abbrechen werde.

Doch das war keine Option für Sie?

In den ersten Momenten der Enttäuschung habe ich darüber nachgedacht, ja. So traurig war ich noch nie. „Wie konnte ich nur so schlecht sein, was war mit mir los, was soll das alles noch?“ Diese Fragen gingen mir durch den Kopf. Doch dann kamen auch schnell andere Gedanken dazu: Ich bin gesund, ich bin fit, ich habe Spaß am Laufen. Ich muss weitermachen, alles andere wäre eine Verschwendung. Und so habe ich einfach weitergemacht.

Das Training abbrechen, weil es mit Rio nicht geklappt hat: Zeigt dieser Rat nicht, wie fixiert viele Sportler auf Olympia sind?

Absolut, da wird dann vier Jahre lang auf diese eine Chance hintrainiert. Und tatsächlich hat die Olympiade ja nicht nur eine ideelle Bedeutung für Athleten: Oft geht es auch um Finanzielles, da wurden Verträge mit Sponsoren abgeschlossen, Fördergelder für Vereine sind mit der Teilnahme verknüpft. So entsteht schnell ein gewisser Druck: Auch ich hatte anfangs das Gefühl, nicht nur mich, sondern Trainer und Sponsoren zu enttäuschen.

Mussten Sie auch private Pläne ändern?

Ja, ich wollte das Geld, dass ich durch die Teilnahme bekommen hätte, in ein Auto investieren. Das ist jetzt nicht mehr drin. Dass die sportliche Elite auch finanziell besonders gefördert wird, ist nachvollziehbar – dass viele Sponsoren ihre Unterstützung aber an die Olympia-Teilnahme knüpfen, finde ich ehrlicherweise schon unfair.

Jana Sussmann

25, ist Hamburger Leichtathletin und auf den Hindernislauf spezialisiert. Sie ist Mitglied im Lauf-Team „Haspa Marathon Hamburg“, wurde Vierte bei den Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften und verpasste nur knapp die Auswahl für die Olympischen Spiele 2016 in Rio. Sussmann studiert Medien und Information an der HAW Hamburg.

Und die Schildkröte, die Sie sich eigentlich als persönliche Belohnung für Olympia zulegen wollten, darf es jetzt auch nicht sein?

Die wollte ich mir zunächst nicht mehr kaufen. Aber dann dachte ich: Was hätte es gebracht, wenn ich mich noch für die Niederlage bestrafe? Jetzt hab ich also eine Schildkröte. Sie heißt Snufkin.

Was gibt Ihnen jetzt die Kraft, weiterzumachen?

Mir hat es geholfen, sofort neue Ziele und Herausforderungen zu suchen. Statt nach Rio bin ich zu einem Hindernislauf nach Schweden gefahren. Das war toll: Wunderschöne Gegend, nette Leute und ich konnte endlich Schwedisch reden, die Sprache lerne ich seit Jahren. Oft sind es gerade die Nebeneffekte, die das Schöne am Sport für mich ausmachen: Menschen treffen, reisen.

Dann ist es gar nicht so sehr der Ehrgeiz, der Sie antreibt?

Natürlich bin ich ehrgeizig. Trainieren ohne Wettkämpfe ist langweilig, möglichst unter den Ersten im Ziel zu landen, die eigene Bestzeit zu übertreffen: Das ist ein riesiger Ansporn. Aber ich bin nicht auf den Erfolg fixiert, weil Sport eben nicht alles ist. Ich habe mich früh dafür entschieden, nicht mein ganzes Leben aufs Laufen auszurichten, darum habe ich noch ganz andere Ziele, die ich erreichen will.

Die da wären?

Ich will Journalistin werden. Darum studiere ich Medien und Information an der Hochschule für angewandte Wissenschaften, habe schon Praktika im TV- und Rundfunkbereich gemacht. Sicher könnte ich noch mehr Zeit im Trainingslager verbringen, würde so vielleicht schneller laufen, aber wäre ich dann glücklicher? Ich glaube nicht. Ich hätte Angst, dass ich den Spaß am Sport verliere.