Gespenstischer Scheiß

HERZBLUT Mit seiner brachialen Post-Sludge-Band Neurosis hat Scott Kelly erstmals Hardcore, Noise Rock und Metal zu einem opulenten Ganzen vereint. Solo mit Gitarre versucht er nun so etwas wie das Gegenteil davon: Reduktion bis auf die blanken Knochen

Der Antrieb: Beim Graben immer noch ein Stück tiefer zu kommen

VON LARS BRINKMANN

Mit etwas Glück ist der Erfolg von „Sons Of Anarchy“, der US-Serie um einen kriminellen Motorrad-Club, erstes Anzeichen für einen breiteren Bewusstseinswandel. Dreckige Biker-Outlaws mit Tod an den Hacken genießen offensichtlich bei großen Teilen der weltweiten Zuschauerschar eine höhere Akzeptanz und bessere Sympathiewerte als, sagen wir mal, Anwälte, Polizisten oder Banker. Das könnte Scott Kelly nützen. Bisher hielt man ihn eher für einen Ex-Knacki, Typ Gerüstbauer, oder eben einen Drogen-Dealer, aber Big Style, nicht tütchenweise am Bahnhof, eher Wagonladungen im Freihafen. Ein massiger Kerl mit einem dunklen, zähen Rollen als Stimme, von Kopf bis Fuß tätowiert, haarig, bärtig – aber auch nachdenklich. Bei genauerer Betrachtung wirkt er in vielen Interviews sogar etwas verloren. Auf eine gute Art, das nimmt ihm trotz seiner physischen Präsenz jegliche mackerhafte Ausstrahlung.

Als einer der Sänger, Gitarristen und Gründer von Neurosis gilt Scott Kelly als eine Vater-, wenn nicht sogar Gottfigur für Generationen, die sich an einem sehr ähnlichen Sound versuchten. Während im (Indie-)Rock der Post-Rock nur eine kleine Zäsur markierte, vereinte die Band aus San Francisco als Erste ihrer Art Hardcore, Noise Rock und Metal zu einem opulenten Ganzen, und eröffnete damit vielen Nachwachsenden ein neues Spielfeld. Metal ohne Blödsinn, episch, oft instrumental, vielschichtig und komplex, Klugscheißer dürfen es auch Post-Metal nennen. Neurosis werden seit zwei Jahrzehnte schamlos kopiert, und ein Ende ist nicht absehbar. Aber keiner beschwört die Apokalypse besser als sie selbst vor zwanzig Jahren auf „Souls At Zero“. Noch heute übermannt das Album mit einer niederwalzenden Wucht, die in der Geschichte der Katharsis, der Musik und des Kultur-Terrorismus ihresgleichen sucht. Danach hat die Band dasselbe Rezept auf mehreren Alben weiter verfeinert und variiert, trotz einiger Experimente weiß der Fan, was ihn bei Neurosis erwartet: eine ordentliche Packung.

Mit seinen Solo-Auftritten versucht Scott Kelly nun so etwas wie das Gegenteil zu erreichen. Statt Breitwand-Attacken präsentiert er nur sich selbst, mit der Gitarre im Anschlag, bis auf den blanken Knochen reduziert. Er will nichts, hinter dem er sich verstecken könnte. „Bei Neurosis bin ich auf eine Art abgeschirmt von den ganzen Verstärkern und Visuals“, erklärt er den Gegensatz. „Ganz allein – mit einer Gitarre und einer Stimme, manchmal auch nur die Stimme – das zwingt einen dazu, etwas tiefer zu graben.“ Beim Graben immer noch ein Stück tiefer zu kommen, das ist für ihn ohnehin der ultimative Antrieb. Hier, tief in seinem Innerem, findet er wie die besten Country-, Blues- und Folk-Sänger Geschichten voller Blut, Reue und Vergebung, die es in ihrer Schwere mit dem Output seiner Band aufnehmen können.

Als er vor elf Jahren mit den Solo-Gigs anfing, wurde er gerade langsam wieder nüchtern, seitdem ist er drogenfrei. „Manchmal ist das ganz schön gespenstischer Scheiß. Du stellst dich bloß, machst dich nackt und bist dabei dazu aufgefordert, aus dem Moment heraus zu reagieren“, sagt Kelly. „Man muss auch damit fertig werden, dass man da sein Herz bluten lässt während sich die Leute unterhalten und mit ihren Gläsern klirren. Ja, da draußen allein zu stehen“, er greift sich mit beiden Händen ans Herz und resümiert noch mal, als müsse er sich selbst vom Wahrheitsgehalt seiner Worte überzeugen: „Das ist wie ein High.“

■ Osnabrück: Do, 13. 12., Bastard Club; Hamburg: So, 16. 12., Molotow