Italien

Ein Beben der Stärke 6,2 macht aus malerischen Bergdörfern in den Apenninen tödliche Trümmerhaufen

Katastrophe zwischen steilen Gipfeln

Erdbeben Mehrere Dörfer sind fast total zerstört: Ein schwerer Erdstoß fordert in Italien mindestens 70 Menschenleben. Nothilfe erreicht die unzugängliche Bergregion nur unter großen Schwierigkeiten

Zusammengefallen wie Kartenhäuser: Blick aus der Luft auf das 2.600 Einwohner große Dorf Amatrice in Mittelitalien Foto: Gregoria Borgia/ap

Aus Rom Michael Braun

Eigentlich wollte Amatrice am nächsten Samstag ein großes Fest feiern, zu dem Tausende Besucher aus dem Umland, aber auch aus dem 140 Kilometer entfernten Rom erwartet wurden: das „Fest der Spaghetti all’amatriciana“.

Denn so klein das Bergdorf in den Apenninen mit seinem 2.600 Einwohnern ist, so berühmt ist doch sein Name eben wegen jener Spaghetti, zubereitet mit einer Tomatensauce, Backenspeck und Schafskäse, die auf der Speisekarte jedes anständigen italienischen Restaurants zu finden sind. Doch in der Nacht auf Mittwoch erlangte der Ort mit einem Schlag eine andere, traurige Berühmtheit. Um 3.36 Uhr erschütterte ein Beben von der Stärke 6,2 auf der Richterskala den Ort ebenso wie zahlreiche umliegende Gemeinden an der Grenze zwischen den Regionen Latium und Marken.

Auch in Rom war die Erschütterung genauso wie ein zweites Nachbeben eine Stunde später zu spüren, die Wohnungstür des taz-Korrespondenten schlug heftig gegen ihren Rahmen, das Bett ruckelte, Schranktüren vibrierten. Zahlreiche Bürger der Hauptstadt begaben sich sicherheitshalber auf die Straße.

Aber während sie kurz darauf in ihre Betten zurückkehren konnten, hatte das Erdbeben eine Spur der Verwüstung in Amatrice, in dem Dorf Pescara di Tronto und in dem Weiler ­Accumoli hinterlassen. Zahlreiche der Wohnhäuser sind komplett in sich zusammengestürzt, und so gut wie alle anderen Bauten sind so schwer beschädigt, dass sie vorerst unbewohnbar sein werden.

Das Beben traf eine dünn besiedelte Region in einer malerischen Bergwelt mit steil aufragenden Gipfeln, mit sattgrünen Wiesen und klaren Seen. Wer mochte, konnte hier ein entschleunigtes Italien kennenlernen, Orte in denen die alten Leute ihren Stuhl vor die Haustür stellen, um mit ihren Nachbarn zu reden, in denen jeder Fremde gegrüßt wird, Orte auch, in denen kein großes touristisches Rad gedreht wird, die jedoch dank ihrer Schönheit und kulinarischen Traditionen zahlreiche Ausflügler anlocken – und die im August Hunderte Menschen beherbergen, die von hier stammen und ihren Sommerurlaub in der alten Heimat verbringen.

Und so gehören viele der Opfer zu diesem Kreis. Genauso wie die Einwohner wurden sie um halb vier Uhr nachts von dem heftigen Erdstoß überrascht, der die Idylle von Amatrice oder Accumoli binnen Sekunden ausradierte. Als der Morgen graute, wurde das ganze Ausmaß der Schäden deutlich; die Bilder zeigten völlig zerstörte Orte, die wirkten, als seien sie bombardiert worden.

Während geschockte, verzweifelte Menschen in Decken gehüllt vor den Trümmern hockten, machten sich die ersten Kolonnen von Helfern an die Arbeit, trugen sie, oft genug mit bloßen Händen, die Steinhaufen auf der Suche nach Überlebenden ab. Denn gerade was die Idylle dieser Gegend ausmacht – ihre Abgelegenheit, die bergige Landschaft, die schmalen Zufahrtsstraßen zu den an den Berghängen klebenden Dörfern –, erweist sich nun auch als Hindernis für die Helfer. Felsbrocken waren auch auf die Straßen gestürzt, blockierten die Heranführung schweren Geräts. Und in Accumoli, in Amatrice, in Pescara del Tronto türmen sich in den kleinen Gassen oft meterhohe Schuttberge der eingestürzten Häuser auf, denen sich die Helfer vorerst nur zu Fuß nähern konnten. Viele der zusammengestürzten Bauten liegen zudem direkt über steilen Berghängen, die abzurutschen drohen, weshalb die Retter sich nur mit größter Vorsicht bewegen können.

„Viele Häuser sind komplett zusammengestürzt, das macht es schwer, ins Innere vorzudringen. Wir werden nur noch Leichen finden“

Zivilschutzleiter Paolo Crescenzi

Immer wieder gelang es ihnen jedoch, Überlebende aus dem Schutt zu befreien. Etwa 100 von ihnen wurden in römische Krankenhäuser eingeliefert, den ganzen Vormittag war über Rom immer wieder der Lärm von Helikoptern zu hören, die die Kliniken der Hauptstadt anflogen. Immer wieder jedoch stießen die Helfer auf Tote; bis zum Nachmittag war die Zahl der Opfer auf über 70 gestiegen.

Die Mitarbeiter des Zivilschutzes, die Pioniere des italienischen Heeres waren schnell vor Ort. Sie fürchten, dass sich die Opferbilanz noch dramatisch erhöhen kann. Dutzende Menschen werden unter den Trümmern vermisst. „Viele Häuser sind komplett zusammengestürzt, das macht es schwer, ins Innere vorzudringen“, erklärte Paolo Crescenzi, einer der Verantwortlichen des Zivilschutzes. Nun müssten erst die Straßen freigeräumt werden, um zu den Ruinen vorzudringen, führte er aus und ergänzte pessimistisch, „wir werden nur Leichen finden.“

Und als wäre die Katastrophe nicht schon schlimm genug, befürchten die Experten weitere schwere Nachbeben. Derweil begann der Zivilschutz schon am Tag des Bebens mit der Errichtung von Zeltstädten für die mehreren tausend Obdachlosen.