Verwirrende Blessuren

BEZIEHUNGSGEFLECHT Jonas Rothlaenderspürt im Dokumentarfilm „Familie haben“ den Zerrüttungen seiner Familie nach

Günther, Rotlaenders 90-jähriger Vater, hofft immer noch auf den Öl-Deal mit seinen „Jungs aus Nigeria“ Foto: Jonas Rothlaender

von Carolin Weidner

Familie haben, das ist eine Beschreibung einer nicht weiter ungewöhnlichen Tatsache. Andererseits haftet diesem „Familie haben“ auch etwas Belastendes und Unwiederbringbares an. Die Grippe hat man. Und Liebeskummer. Oder eben Familie. „Familie haben“, das ist auch der Titel eines Dokumentarfilms von Jonas Rothlaender, der am Sonntag im Lichtblick-Kino im Beisein des Regisseurs in der Reihe „Zurück auf Anfang“ zu sehen ist, in der Filmemacher ihre ersten Filme präsentieren. Im Falle Rothlaenders muss die Spur nicht allzu weit zurückverfolgt werden: „Familie haben“ feierte erst im vergangenen Jahr in Saarbrücken beim Max-Ophüls-Preis Premiere. Trotzdem passt „Zurück auf Anfang“ nicht schlecht, ist es doch genau die Bewegung, welche der 1982 in Lübeck Geborene vollzieht.

Alles beginnt mit einem Aktenordner, den Oma Anna vor ihrem Tod sorgfältig zusammengestellt hat und der Jonas, zum besseren Verständnis der Situation, von ihr vermacht wird. In ihm: unter Verzweiflung verfasste Briefe. Im Alter hat die Frau ihre gesamten finanziellen Mittel eingebüßt. Schuld ist der ehemalige Gatte Günther, der Anna anwies, ihm ihr gesamtes Vermögen zu übertragen, damit er es gewinnbringend in der Schweiz anlegen könnte. Günther verspekuliert sich jedoch und Anna ist pleite. Gedanklich kreisen ihre letzten Jahre um den plötzlichen Ruin. Doch nicht nur der lastet auf ihr – auch das Verhalten der übrigen Familienmitglieder, allen voran Jonas’ Mutter Bettina, einziges Kind, das aus der Ehe zwischen Anna und Günther hervorgegangen ist, stellt die alte Dame vor ein Rätsel. Denn offenbar interessiert sich niemand für die Katastrophe, die über sie hereingebrochen ist. Und aus der Anna nur einen Ausweg kennt.

Jonas Rothlaender möchte wissen, was da vorgefallen ist in seiner Familie. Woher der Gram, die Verbitterung rühren, die er selbst seit Kindertagen spürt und die wie ein schweres Tuch über allen liegen. Vor allem interessiert ihn: Vererben sich Zerrüttungen von einer Generation auf die nächste? Und falls ja: Wie kann dieser fatale Kreislauf durchbrochen werden? Fragen wie diese sind es, die er als „Überlebensfragen“ bezeichnet und die den Anstoß für „Familie haben“ gaben. „Mich beschäftigen ganz generell Beziehungen, das ist etwas, was mich umtreibt und bewegt“, sagt Rothlaender. Er selbst wird in „Familie haben“ gewissermaßen zum Kommunikationshelfer, denn er ist es, der die Gespräche zwischen den Verwandten immer wieder anstößt.

Jonas Rothlaender möchte wissen, woher der Gram, die Verbitterung rühren

Im Zentrum dieses Geflechts steht Günther, neunzigjährig, in einem Schweizer Pflegeheim vegetierend. Eine kuriose Figur, die an Dagobert Duck erinnert, die Zahlenreihen aufsagt wie andere Gedichte und die noch immer an den großen Coup glaubt: Ölgeschäfte mit seinen „Jungs in Nigeria“. Jeden Tag schlurft er zum Münztelefon, um den Deal noch vor seinem Abtritt einzutüten. Enkel Jonas filmt ihn dabei. Und er spricht Themen an, die dem Augenklappe tragenden Geschäftsmann nicht ferner sein könnten. Ob er seine Frau Anna auch geliebt hätte. Ob er ein stolzer Vater gewesen sei. „Mensch, du stellst mir Fragen, da hab ich mein ganzes Leben noch nicht drüber nachgedacht!“, bellt er.

Rothlaender, der dem Großvater, wie eine Pflegerin bemerkt, wie aus dem Gesicht geschnitten ist – eine Beobachtung, die ihn abschreckt und ekelt, er möchte weder so aussehen noch so sein wie dieser Mann –, bleibt allen verbalen Giftspritzen zum Trotz. Und es gelingt ihm sogar, seine Mutter zu einigen Besuchen nach Zürich zu überreden: Konstellationen, die bisher verborgen Gebliebenes beleuchten, verwirrende Blessuren kontextualisieren. Sichtbar wird eine Wirtschaftswunderwelt. Günther, beinahe in Stalingrad gefallen, wird in der BRD zu einem reichen Industriellen, Ehefrau Anna und Tochter Bettina verströmen den Duft der Upper Class, zahlreiche Aufnahmen, die Rothlaender einfließen lässt, zeugen davon. „Es geht mir um Wahrnehmung und mit ihr einhergehend um die Frage nach Wahrheit. Darum, dass wir bestimmte Bilder immer wieder revidieren müssen.“ Jonas Rothlaenders Film ist eine Rückeroberung. Eine Rückeroberung von Wahrnehmungen, denen vor lauter Verzagtheit bisher aus dem Weg gegangen wurde.

Jonas Rothlaender: „Familie haben“, Kino Lichtblick, Kastanienallee 77, 28. 8., 20 Uhr