Zeitgeschichte Ein Sammelband beleuchtet die neuen Lebenswelten deutschsprachiger jüdischer Einwanderer der 1930er Jahre in Haifa
: Für eine bessere Zukunft

Zaunziehen in der neuen Heimat, 1936 Foto: Bildarchiv Pisarek/akg-images

von Klaus Hillenbrand

Überhaupt der Kibbuz! Mir blutet das Herz, wenn ich lese und noch mehr höre, wie Ihr jetzt hinter Eurer Jugend herjagen müsst …“ Mit diesem Brief beklagte Hertha Wolff, aufgewachsen im kaiserlichen Deutschland und 1934 mit ihrer Familie vor den Nazis in die palästinensische Hafenstadt Haifa emigriert, was aus ihrer Tochter Hannah geworden war.

Hertha, im jüdisch-deutschen Mittelstand sozialisiert und den Werten des Bildungsbürgertums nahe, konnte den Lebensweg von Hannah nicht begreifen. Auch in ihrer neuen Heimat suchte die Mutter die untergegangene deutsche Lebenswelt aufrechtzuerhalten und lebte in einem vorwiegend von deutsch-jüdischen Einwanderern – geringschätzig Jeckes genannt – besiedelten Stadtviertel Haifas, wo Deutsch eine Umgangssprache blieb.

Ihre Tochter dagegen wandte sich dem sozialistischen Kollektivismus zu und heiratete, ohne die Mutter zu informieren. Eines Tages musste Hertha sehen, wie eine Genossin ihrer Tochter deren von der Mutter gestricktes Kleid trug. Empört schrieb sie an den Kibbuz: „Ich sage nicht, was ich davon halte, dass meine Tochter das Kommuneleben gewählt hat, aber sie hat sich dafür entschieden, nicht ich. Ich möchte Sie bitten, mir das Kleid zurückzuschicken, damit ich es auftrennen kann.“

Die Geschichte von Hertha und Hannah Wolff ist einer von 24 Texten eines Sammelbands mit dem etwas umständlichen Titel „Deutsche und zentral­europäische Juden in Palästina und Israel“. Gemeint sind damit vor allem die Einwanderer aus Deutschland und Österreich, die ab 1933 zu Zehntausenden in das damalige britische Mandatsgebiet auswanderten. Haifa aber, die Stadt mit der wohl anmutigsten Topografie, wo die Carmel-Berge hoch und steil aus dem Meer wachsen und für viele der Ort, wo die Geflüchteten erstmals den Boden Erez Israels betraten, wurde schnell zur Hochburg der Jeckes. „Haifa ist das Versprechen einer besseren Zukunft“, schreibt dazu Joachim Schlör in seinem Aufsatz über Abschied, Transit und Ankunft. Nicht jedem ist dieses Versprechen eingelöst worden.

Oft bildungsbürgerlich geprägt, hatten die Jeckes erhebliche Probleme mit der Integration

Das Buch, zugleich ein deutsch-israelisches Kooperationsprojekt, spannt einen weiten Bogen von der Literatur und Architektur über Porträts einzelner Protagonisten bis zu grundsätzlichen Fragen von Identitäten und politischen Organisationen in einer Einwanderungsgesellschaft.

Die Herausgeberin Anja Siegemund, seit Kurzem Leiterin des Centrum Judaicum in Berlin und selbst lange in Haifa ansässig, macht darauf aufmerksam, dass die Jeckes bisher vor allem unter zwei Gesichtspunkten betrachtet wurden – als diejenigen, die unter erheblichen Schwierigkeiten bei der Integration in das neue jüdische Gemeinwesen litten und deshalb angefeindet wurden, aber auch als die Gruppe, die moderne Einrichtungen vom Warenhaus bis zu ersten Fabriken in ihrer neuen Heimat etablierten. Das Buch stellt diese Anschauungen nicht grundsätzlich in Zweifel, aber es ergänzt sie erheblich.

Denn da wird in Texten und den großartigen, bisher unveröffentlichten Fotos das Private beschrieben. Wie war das etwa, wenn die jeckische Hausfrau sich dazu gezwungen sah, einen vergleichsweise primitiven Haushalt zu führen, wenn gar Rollenbilder ins Wanken gerieten, weil der Ehegatte keine Arbeit fand und die Familie mit dem Angebot eines „deutschen Mittagstischs“ an Fremde über Wasser gehalten werden musste? Warum fand der Erfolgsschriftsteller Josef Kastein in Haifa keinen Anschluss mehr? Warum scheiterten die Bemühungen zur Gründung deutschsprachiger Theater? Die Geschichte der deutsch-jüdischen Einwanderung ist auch eine sehr individuelle, und am Beispiel von Hertha und Hannah Wolff zeigt sich, wie unterschiedlich sich die Lebensbilder der ersten und zweiten Generation der Jeckes gestalteten, zwischen denjenigen, die nicht loszulassen imstande waren, und jenen, die voller Begeisterung in ihrer neuen Heimat aufgingen.

Und doch litten viele der Neueinwanderer jenseits all der alltäglichen Probleme vom streikenden Petroleumkocher „Primus“ bis zu den Schwierigkeiten des Erlernens einer neuen Sprache unter einem grundsätzlichen Konflikt. Mit dem Transfer nach Haifa verbunden war auch die Umwertung bisheriger Werte. Dem alten bürgerlichen Leben stand nun der sozialistische Kollektivismus in Kooperativen, Kibbuzim und Gewerkschaften gegenüber, verbunden mit der Erwartung des umstandslosen Aufgehens der ­Jeckes im Jishuv, so die Bezeichnung der jüdischen Gemeinschaft in Palästina.

Nichts, was der Einwanderer mitbrachte, entsprach den neuen Vorstellungen: die Bücherwand zu gewaltig für das niedrige neue Zuhause, der akademische Titel bedeutungslos, die Fortführung des bisherigen Berufs mehr als zweifelhaft, die deutsche Sprache verhasst, die Architektur nicht länger preußisch, sondern modernistisch.

Und doch sollte Palästina ja nicht irgendein Emigrationsland darstellen, sondern den Aufstieg in die neue jüdische Heimstätte. Ausgerechnet in Haifa spielen viele Szenen in Theodor Herzls Roman „Alt­neu­l­and“, einer imaginären Vorstellung des Zukünftigen.

Aber angekommen waren die Jeckes in einem armen Entwicklungsland voller ethnischer und sozialer Spannungen. Und so ist es, so ein Fazit dieses großartigen Buchs, wenig verwunderlich, dass es einigen der Einwanderer nicht gelungen ist, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen. Der Autor dieser Zeilen kann sich noch an diese Jeckes im Haifa der 1980er Jahre erinnern, die, kaum des Hebräischen mächtig, in einer seltsamen Parallelgesellschaft gefangen blieben. Verwunderlich ist vielmehr, dass die große Mehrzahl der deutschen Immigranten so erfolgreich wurden, dass der einst verhasste Begriff ­Jeckes inzwischen einem Ehrentitel gleichkommt.

Anja Siegemund (Hg.): „Deutsche und zentraleuropäische Juden in Palästina und Israel“. Neofelis, Berlin 2016, 514 S., 39 Euro