Didier Eribon über französische Zustände: Negative Leidenschaften

Seine essayistische Autobiografie „Rückkehr nach Reims“ liest sich, als wäre sie eigens anlässlich des Aufwindes der Rechtspopulisten geschrieben.

Eine blonde Frau hebt den Zeigefinger

Die Chefin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, auf dem „Partriotischen Frühling“ in Österreich Foto: dpa

Es ist zum Heulen. Da schreibt einer der klügsten Köpfe Europas ein Buch über sein Leben und das Drumherum, ein über weite Strecken gesellschaftsanalytisches, das sich aber liest wie ein Roman. Ein Buch, das man nicht aus der Hand legen kann, das einem die Augen öffnet über die Schwierigkeiten, als Kind eines Fabrikarbeiters und einer Putzfrau den steinigen Weg bis an namhafte Universitäten und zu den erlesensten Zeitungen zu nehmen. Und darüber, wie es ist, diesen Weg als Schwuler gehen zu müssen.

Ein Buch, das zu alldem noch begeistert wegen des außergewöhnlichen Bemühens seines Autors, zu verstehen, warum so viele frühere Linkswähler nun eine rechtspopulistische Partei wie den Front National vorziehen. Und dann erreicht einen dieses Buch aus Frankreich erst mit sieben Jahren Verspätung.

Das ist kein Vorwurf an den Verlag, der sicher seine Gründe gehabt hat, Didier Eribons „Retour à Reims“ erst jetzt in deutscher Übersetzung vorzulegen. Aber es sagt einiges über den Erklärungshunger der hiesigen Öffentlichkeit, dass dieses gar nicht so brandneue Buch von der Kritik gefeiert wird und im Nu vergriffen war, als hätte der heute 63-jährige Philosoph es eigens anlässlich der letzten AfD-Wahlerfolge und der Brexit-Abstimmung geschrieben. Eribons essayistische Autobiografie eignet sich offenbar immer mal wieder als Buch der Stunde.

In Deutschland vor allem als Foucault-Biograf bekannt, ist der Autor zu Hause darüber hi­naus ein beliebter Talkshowgast und politischer Kommentator im Fernsehen. In Frankreich haben die Überlegungen, die er in „Rückkehr nach Reims“ zur Arbeiterschaft und dem Front National anstellt, nach der Veröffentlichung des Originals 2009 heftige Kontroversen ausgelöst. Deren Ergebnisse fließen heute natürlich in seine Äußerungen ein. Und Eribon hat in den zurückliegenden sieben ereignisreichen Jahren – mit den großen Wegmarken Finanzkrise, IS-Terroranschläge, Flüchtlingskrise – sein Instrumentarium weiter geschärft.

Eribons essayistische Autobiografie eignet sich als Buch der Stunde

In einem Interview mit Zeit Online schrieb er kürzlich den Demonstranten der Nuit-debout-Bewegung dieses Frühsommers ins Poesiealbum, mit ihrer nationalprotektionistischen Rhetorik, ihren Tiraden gegen die Finanzelite und der Beschwörung des Volks würden sie sich oft anhören wie die Demagogen des FN.

Nostalgie und Autoritarismus

Wovon Eribon allerdings auch in diesen sieben Jahren nicht abgerückt ist, ist seine etwas nostalgische Bezugnahme auf eine autoritäre Lösung: „In den Sechzigern und Siebzigern gab es noch eine Linke, zumindest in Frankreich, in Italien und Spanien, die der Arbeiterklasse einen Rahmen gegeben hat, in dem sie sich selbst denken konnte. In diesem Rahmen war klar, was in ihrem Interesse liegt, was sie einfordern muss, was sie verteidigen muss.“

In „Rückkehr nach Reims“ kann man lesen, dass er mit diesem Rahmen die PCF meint, die Französische Kommunistische Partei, einen fürchterlich stalinistischen Verein, der noch in den 1960er Jahren dem Fraktionsverbot huldigte und nicht zauderte, interne Kritiker mit Parteiausschlussverfahren zu überziehen. Die lobende Erwähnung ist erstaunlich, denn Eribon war in jungen Jahren mit Feuereifer ein Kritiker der Kommunistischen Partei Frankreichs.

Die damalige Zustimmung der Wähler zu einer Partei solchen Zuschnitts erklärt Eribon in dem Buch so: „Es ging um Protest, nicht um ein von globalen Perspektiven inspiriertes politisches Projekt.“ Und die Geschichte der Regierungskoalition mit den Sozialisten zu Beginn der 80er beschreibt er dort als einen Verrat an den Wählern und ihren Interessen.

Didier Eribon: „Rückkehr nach Reims“. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Suhrkamp, Berlin 2016, 240 S., 18 Euro

Die diskussionswürdige Frage ist vielleicht gar nicht in erster Linie, wie in Frankreich diskutiert, ob es die ins Feld geführte Arbeiterklasse heute noch gibt oder ob man sie noch so nennen soll. Eribon selbst ist sich da nicht so sicher; bisweilen spricht er auch von den „unteren Schichten“.

Will man erklären, warum so viele, auch Eribons Eltern, die sich früher der Arbeiterschaft zugerechnet und kommunistisch gewählt haben, heute zum Front National gewechselt haben, fragt sich, ob das wirklich am Bedeutungsverlust der Kommunistischen Partei liegt oder nicht umgekehrt gerade an ihrer damaligen Stärke. Man sollte vielleicht den Akzent etwas verschieben: Haben der Dirigismus und die jede Eigenaktivität verhindernde Politik der PCF womöglich den Boden dafür bereitet, dass man sich jetzt den autoritären Lösungsversprechen der Rechtspopulisten zuwendet? Nimmt man noch Pegida und die AfD-Ergebnisse im deutschen Osten hinzu, scheint das doch die viel plausiblere Erklärung zu sein.

Kritische Intellektuelle in der Pflicht

Jetzt waren natürlich im Unterschied zum Front National weder die SED noch die Französischen Kommunistische Partei rassistisch (wir lassen den Antisemitismus hier mal außen vor). In seinem Buch sucht Eribon auch für diesen scheinbar eklatanten Gesinnungswandel der Wähler nach einer Erklärung. Er erzählt allerdings freimütig, seine Eltern seien zu Zeiten, in denen sie noch die Kommunisten wählten, schon genau so rassistisch gewesen wie heute. Nur biete der FN eben einen Rahmen, in dem sich das Schimpfen auf die Einwanderer in politische Forderungen verwandeln könne.

Hier sieht er nun kritische Intellektuelle und soziale Bewegungen in der Pflicht: Sie müssten einen theoretischen Rahmen und eine politische Sichtweise konstruieren, die diese „negativen Leidenschaften“, die „in den populären Klassen zirkulieren“, weitgehend „neutralisieren“. Man sieht schon, die Sprache des Buchs ist nicht durchgehend angenehm.

Sie werden als mögliche Nachfolger für Sigmar Gabriel gehandelt. Ob EU-Präsident Martin Schulz und Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz die SPD aus der Krise bringen könnten, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 23./24. Juli. Außerdem: Ein Dossier zur Türkei. Wie erleben die Menschen in Istanbul die Woche nach dem Putsch und wie tickt Präsident Erdoğan? Und: Franz Herzog von Bayern könnte heute König sein, wäre da nicht 1918 dazwischengekommen. Ein Gespräch mit einem verhinderten Monarchen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Andere Intellektuelle in Frankreich ziehen es vor, der verfehlten Integrationspolitik ihres Landes mal an die Klamotten zu gehen. Es sind die islamistischen Attentate der letzten 18 Monate, die das mit Gewalt auf die Tagesordnung gesetzt haben. Jedenfalls sieht es heute so aus, als könnten Interven­tionen auf diesem Gebiet aussichtsreicher sein als ein Krieg um die Köpfe, wie er Eribon vorschwebt – egal ob in Richtung radikalisierter Migranten oder in Richtung der FN-Wähler.

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