Stadtgespräch
: Flüsse aus Gips und Kreide

Milch ist knapp, Fabrikanten sind gemein. Dennoch wächst der Zuspruch der Russen zu einem Einfuhrverbot

Klaus-Helge Donath aus Moskau

Wieder kam der Käse ins Gerede. Seit Wladimir Putin die europäischen Sank­tio­nen nach Donbasskrieg und Krimannexion vor zwei Jahren mit einem Einfuhrstopp für Lebensmittel aus der EU konterte, steht der Käse stellvertretend für die gesamte Malaise. Wer durch Supermärkte läuft, trifft nicht selten auf Verbraucher, die Käsetheken ungewöhnlich aufmerksam inspizieren. Als ließen sich die Ingredienzen so erraten. Was in der EU im Überfluss vorhanden ist, fehlt in Russland. Es herrscht ein Milch­defizit. 2016 droht die heimische Milchproduktion erstmals unter die ­kritische 30-Millionen-Tonnen-Marke zu sinken. Experten veranschlagen den weiteren Bedarf auf zusätzlich mindestens 8 Millionen Tonnen.

Russische Fabrikanten sind jedoch erfinderisch. Kaum waren die Sanktionen verhängt, wurde Milch durch Palmöl ersetzt. Dessen Verbrauch stieg allein im letzten Jahr um mehr als 15 Prozent. In Putins jährlichem „Dialog mit dem Volk“ ging es im Frühjahr nicht mehr nur um den niedrigen Ölpreis, auch zum Palmöl musste der Kremlchef Stellung beziehen. Er versprach, sich dafür einzusetzen, dass die Verwendung von Palmöl auf Verpackungen vermerkt würde. Allerdings setze das das Einverständnis der Partner in der Eurasischen Union voraus. Alles nicht so einfach, gab er zu verstehen.

Russlands Unternehmen erhielten mit der Verhängung der Sanktionen gleichzeitig den Auftrag, Ersatz für Importwaren zu suchen. Autarkie war das Ziel, kurzfristig zumindest.

Die Aufsichtsbehörde für Agrarprodukte legte nun eine Liste mit Milchsurrogaten vor. Dem waren Laborexperimente vorausgegangen, die sogar im Fernsehen gezeigt wurden. Was sich äußerlich als Käse präsentierte, erwies sich über dem Bunsenbrenner als energiehaltiger Stoff, der sich, nachdem er vorher auf einem Schälchen herumhopste, erst nach zehn Minuten in einer dunklen Rauchschwade auflöste. Milch enthielt der Klumpen nicht. Kreide, Kalk, Gips und Zement entdeckten die Laboranten in den Käsefakes als Streckmaterialien. Weitere Zutaten waren Bor- und Salizylsäure. Letztere verfügt über nützliche Sekundäreigenschaften. Als weißes Pulver wirkt es schmerzlindernd, fiebersenkend, entzündungshemmend und wird überdies zu Warzenbehandlungen eingesetzt. Die staatliche Aufsichtsbehörde veröffentlichte daraufhin eine „Liste der Ehrlichen“, die jene Firmen enthält, die tatsächlich noch Milch bei der Herstellung von Joghurt, Käse oder Eis verwenden. Unabhängige Verbraucherschützer von der Organisation Roskontrol ermittelten bei Molkereiprodukten einen Anteil von 60 Prozent Ersatzstoffen, bei Fleischprodukten sah es noch schlechter aus.

Zu Wochenbeginn reagierte auch Premierminister Dmitri Medwedjew. Er ließ eine Liste privater Firmenlabors erstellen, die minderwertige Lebensmittel mit Unbedenklichkeitszertifikaten versehen. Das ist einer der Gründe, warum Moskau nicht Mitglied der Ilac und der IAF werden konnte. Die International Laboratory Accreditation Cooperation (Ilac) und das International Accreditation Forum (IAF) stellen Gütebescheinigungen für den internationalen Handel aus. Streben russische Unternehmen dennoch auf den Weltmarkt, müssen sie die Produkte kostspieligen Einzeltests unterziehen. Auch die Kremlpartei Einiges Russland sieht in den „schwarzen Zertifikatoren“, die Papiere mit geschminkten Daten ausgeben, ­inzwischen eine Bedrohung ­russischer Wirtschafts­interessen.

Abhilfe könnte natürlich der Milchüberschuss der EU schaffen. Einige deutsche Milchbauern sollen bereits in Moskau angeklopft haben. Sie seien nicht nur bereit, Milch, sondern auch die deutsche Staatsbürgerschaft abzugeben, frohlockten russische Quellen.

Im Vergleich dazu sind Russlands Verbraucher Patrioten. 40 Prozent unterstützten noch im Juni die Verlängerung des russischen Einfuhrverbots bis Ende 2017. Fast doppelt so viele wie vor einem Jahr. Kurzum, Souveränität statt Käse. Auch den russischen Käsern kommt das gelegen: strecken schon, aber nicht nach der Decke.