Erinnerungskultur in Polen: Die Legende der unbefleckten Nation

Zum 70. Jahrestag des Pogroms von Kielce verurteilt Staatspräsident Duda jedweden Antisemitismus. Doch die polnischen Täter erwähnt er nicht.

Menschen applaudieren

Die Bevölkerung von Kielce applaudiert Präsident Duda zu seiner Ansprache Foto: ap

WARSCHAU taz | Bis zum letzten Moment zweifelt der Journalist und Psychologe Bogdan Białek, ob Polens Staatspräsident Andrzej Duda tatsächlich zum 70. Jahrestag des Pogroms von Kielce kommen würde. „Ich habe ihn zur Gedenkfeier eingeladen“, sagt der 61-Jährige. „Aber es kam nicht einmal eine Antwort“, zuckt er die Schultern. „Letztlich ist ja auch die tägliche Arbeit hier vor Ort entscheidend. Wir Kielcer müssen schließlich damit klarkommen, dass wir 1946 mit dem ‚Pogrom von Kielce‘ schmachvoll in die Weltgeschichte eingingen. Das ist nicht leicht“, seufzt er.

Doch dann kommt Duda doch noch, nimmt am Gebet auf dem jüdischen Friedhof teil, legt einen Kranz nieder und hält eine kurze Gedenkrede. „Es gibt keine Rechtfertigung für antisemitische Verbrechen, und es wird keine geben“, betont Duda. „Am 6. Juli 1946 verhielten sich staatliche Organe – die Armee, die Miliz und der Geheimdienst – in seltsamer, ja bestialischer Weise. Sie eröffneten als Erstes das Feuer auf die Opfer. Statt unseren Mitbürgern zu helfen und sie zu schützen, griffen sie sie an und ließen sie dann allein.“ Während die mitgereisten Staatsbeamten keine Miene verziehen, senkt Pokels orthodoxer Oberrabbiner Michael Schudrich den Blick auf den Boden. Noch sind die Schlüsselworte „Jude“ und „Pole“ nicht gefallen.

Nach einem kurzen Seitenblick auf Schudrich fährt Duda fort: „Polen und Juden lebten hier tausend Jahre zusammen, schlossen Ehen und Freundschaften. Schudrich lehnt sich inzwischen an die Hauswand an.

Duda fährt fort: „Ich will hier mit allem Nachdruck betonen, dass diejenigen, die diese Verbrechen begangen haben, sich automatisch aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen haben, aus der Republik der Freunde.“ Während die Beamten zustimmend nicken, sackt Schudrich immer mehr in sich zusammen. Es ist nun klar, dass der Präsident nur den kommunistischen Staatsapparat für die Verbrechen verantwortlich machen will. „Polen“ kann er unter den Tätern nicht erkennen.

Kein Antisemitismus in Polen

Vor wenigen Monaten hatte der Warschauer Sozialpsychologe Michał Bilewicz darauf aufmerksam gemacht, dass die regierende rechtsnationale Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eine ganz spezifische Ethnisierung der Täter vornimmt. In der neuen Geschichtspolitik Polens tauchen katholische Polen immer nur als Helden und Opfer auf. Sollten sie doch einmal zu Tätern geworden sein, sind sie automatisch keine Polen mehr, sondern nur noch „Verbrecher“, „Menschen“ oder „Kommunisten“.

Vor wenigen Tagen erinnerte der PiS-Parteivorsitzende Jarosław Kaczyński in Białystok an das Verbrechen einer berüchtigten Polizeieinheit aus Hamburg. Am 27. Juni 1941 hatte sie 2.000 Juden ermordet und die große Synagoge von Białystok in Brand gesteckt. Kaczyński sagte vor dem Denkmal: „Der Holocaust ist die Schuld des deutschen Staates und des deutschen Volkes, das Hitler bis zum Ende unterstützte. Die deutsche Armee hat monströse Verbrechen begangen. Wir müssen heute daran erinnern, in hundert Jahren, zweihundert, fünfhundert und sogar in tausend Jahren.“

In der Geschichts­politik tauchen katholische Polen immer nur als Helden und Opfer auf

Die PiS will per Gesetz verbieten lassen, dass künftig Journalisten, Historiker oder Politiker über die Beteiligung von Polen an Pogromen und anderen Judenmorden sprechen oder forschen. „Wir müssen auch deshalb darüber sprechen“, so Kaczyński in Białystok“, weil die Verantwortung nicht geteilt werden darf, wie dies in letzter Zeit versucht wird.“ Selbst wenn sich Polen gegen Juden vergangen hätten, sei dies allein auf die vorherigen Verbrechen der Deutschen zurückzuführen. „Die Schuld ist ganz klar“, so Kaczyński, und auch im Falle des Pogroms von Jedwabne dürfe sie nicht dadurch verdeckt werden, dass man am Ende ein Verbrechen völlig losgelöst von seinem eigentlichen Verlauf darstelle.

Die Zahl der Progrome stieg

Das Pogrom von Jedwabne fand am 10. Juli 1941 statt, kurz nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion. SS-Männer hatten in den seit 1939 sowjetisch besetzten Gebieten Polens zu Pogromen angestiftet. Die katholischen Bauern könnten in den nächsten Tagen selbst ihre jüdischen Nachbarn umbringen oder aber das Morden den Einsatzgruppen überlassen, hieß es.

Der polnisch-amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross löste mit seinem im Jahr 2000 veröffentlichten Buch „Nachbarn“ die heftigste und längste Geschichtsdebatte in Polen aus. Viele hörten von diesem Pogrom zum ersten Mal. Das Entsetzen wurde immer größer, als die Zahl der Pogrome mit der weiteren Forschung immer weiter stieg. Viele weigerten sich, ihr bisher von der kommunistischen Zensur geschütztes Geschichtsbild als „Helden und Opfer der Geschichte“ aufzugeben. So auch Kaczyński und viele seiner Anhänger.

„Wir haben wie jedes Jahr ein paar Busse gechartert“, erklärt Lesław Piszewski, der Vorsitzende des Jüdischen Gemeindebundes in Polen. „Wir werden der Toten von Jedwabne gedenken, aber auch in einige andere Pogrom-Orte in der Umgebung fahren, die weniger bekannt sind.“ Ob Polens Präsident Andrzej Duda am kommenden Sonntag am 75. Jahrestag des Pogroms teilnehmen werde, wisse er nicht. „Wir haben angefragt“, sagt er und zuckt die Achseln. „Von dieser neuen Politikern an der Macht kriegen wir fast nie eine Antwort.“

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