Stadtgespräch
: Verschwundene Kinder

Tausende aus dem Jemen stammende Eltern sahen ihre in Israel geborenen Kinder nach der Entbindung nie wieder

Susanne Knaul aus Jerusalem

Meine Tante Kammi hatte gerade entbunden, als die Schwestern ihr das völlig gesunde Baby wegnahmen“, erinnert sich Efrat Shani-Shitrit. „Am nächsten Tag sagte man ihr, dass es gestorben sei.“ Den Leichnam habe die Mutter nicht sehen dürfen. Shani-Shitrit vermisst seit gut einem halben Jahrhundert ihren Cousin.

Die Geschichten sind fast immer gleich. Hunderte, vielleicht sogar Tausende Kinder sind in den ersten Jahren nach der Gründung Israels verschwunden. Die meisten waren jemenitischer Abstammung, einige kamen aus Familien mit nordafrikanischen Wurzeln. Entweder waren es Neugeborene oder noch sehr kleine Kinder, die in den Krankenhäusern von ihren Müttern getrennt wurden und nie wieder auftauchten. Über 60 Jahre hielt der Staat Akten unter Verschluss, die zur Klärung der Affäre beitragen könnten. Jetzt soll das Geheimnis der jemenitischen Kinder gelüftet werden.

Die Abgeordnete Nava Boker (Likud) will wissen, ob ihre zwei Geschwister vielleicht noch am Leben sind. Jahrelang habe sie die Möglichkeit verdrängt, dass die Ärzte ihre Mutter belogen haben könnten. Die Familie kam in den frühen 60er Jahren aus dem Jemen nach Israel. Bokers Schwester sei gleich nach ihrer Geburt verschwunden. Das Kind sei angeblich zur Autopsie gebracht worden. „Meine Mutter hat ihr Baby nicht mehr gesehen und auch keine Todesurkunde erhalten.“ Der Bruder ist mit elf Monaten ins Krankenhaus eingeliefert worden und verschwand auf ähnlich mysteriöse Weise. Auch für ihn gab es keine Beerdigung.

Boker fordert, dass die Archive geöffnet werden, um Untersuchungsmaterial, Protokolle und Zeugenaussagen einzusehen und die Wahrheit über die „Verbrecher“ zu erfahren, „die unter Vortäuschung falscher Tatsachen die Mütter von ihren Kindern trennten“.

Eigentlich müssten die rund 1,5 Millionen Seiten bis zum Jahr 2071 unter Verschluss bleiben, so erklärt Jakob Lazovik, Chef des Staatsarchivs, „aus Schutz der Privatsphäre“ der betroffenen Familien. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will das nicht einleuchten. „Die Zeit ist reif“, erklärte er, um den Familien gerecht zu werden, für die das Thema nach all den Jahren noch immer „eine klaffende Wunde ist, die weiter blutet“. Vier weitere Abgeordnete meldeten sich inzwischen mit ähnlichen Geschichten zu Wort.

Die Öffnung der staatlichen Archive droht den schwelenden Konflikt zwischen den Sepharden, den Juden orientalischer Herkunft, und den Aschkenasen mit europäischen Wurzeln anzustacheln. Fast ein offenes Geheimnis ist es, dass die Kinder der sozial schwachen orientalischen Einwanderer entführt wurden, um sie in europäischen Familien aufwachsen zu lassen. Die Aschkenasen bildeten über Jahrzehnte die Elite im Land.

Jemeniten, so die Haltung des Establishments in den frühen Jahren nach der Staatsgründung, seien für die Erziehung nicht geeignet. Möglich ist, dass die entführten Kinder in die Obhut von Holocaust-Überlebenden kamen, die selbst nicht mehr zeugungsfähig waren.

Die Krankenhäuser erklärten das Verschwinden der Kinder mit den chaotischen Zuständen in den Durchgangslagern, in denen die Einwanderer aus dem Jemen lebten. Deshalb seien viele Kinder zur Adoption freigegeben oder in Waisenhäuser geschickt worden. Viele seien gestorben, als das Land in den 50er Jahren von einer Polio-Epidemie heimgesucht wurde.

„Wir werden nichts verstecken“, verspricht der Chef des Staatsarchivs, allerdings werde es „ein paar Wochen dauern“, bevor das Material gescannt ist. Viele Betroffene wollen jetzt ber nicht mehr warten. Die Organisation Amram, ein Initialwort für „Geist des Ostens“, appellierte an betroffene Familien, einen DNA-Test machen zu lassen, um selbst die Suche nach Eltern oder vermissten Kindern einzuleiten.

Jemenitischstämmige Politiker fordern, dass der Staat die Tests finanzieren und prüfen sollte. „Wenn meine Geschwister noch leben“, sagt die Parlamentarierin Boker, „dann will ich sie sehen.“