Das Ende
der
Kleinstaaten

Thüringen Zügig will die rot-rot-grüne Landesregierung die Kreisgebietsreform durchsetzen. Schafft sie das, wäre es das Ende der jahrhundertealten Kleinstaaterei. Doch die Widerstände sind enorm. Empörte Lokalpatrioten drohen gar mit einem Gebietswechsel nach Bayern

Wirkt auch irgendwie wie eine Trutzburg: Proteste gegen die Kreisgebietsreform vor dem Thüringer Landtag in Erfurt Foto: dpa

Von Michael Bartsch

Im Landratsamt Sonneberg bemüht sich Landrätin Christine Zitzmann selbst in die Teeküche. Mit dem Sparen müsse man oben beginnen, erläutert sie, und so habe sie auch in ihrer Umgebung die Zahl der Mitarbeiter so weit wie möglich reduziert. Dem Kreis im fränkischen Teil Südthüringens mit nur 58.000 Einwohnern geht es wirtschaftlich zwar sehr gut. „Besser als Jena“ stünde man da, und die Zahl der Einpendler aus Coburg und Umgebung übersteige inzwischen die Zahl der Auspendler nach Nordfranken, sagt die Landrätin. Aber im Haushalt des Kreises bleibt gerade noch ein einziges Prozent für freiwillige Aufgaben, von denen sie die Musikschule und das einzigartige Spielzeugmuseum für unverzichtbar hält.

Auch deshalb reagiert die 63-jährige Christine Zitzmann allergisch auf die Gebietsreform, die die seit 2014 amtierende erste rot-rot-grüne Landesregierung mit dem Linken Bodo Ramelow an der Spitze in Angriff genommen hat. Als der Tee fertig ist, schildert die energische, aber warmherzige Landrätin im rollenden oberfränkischen Dialekt ihre Vorbehalte. „Wir haben kein Gebietsproblem, sondern ein Finanzproblem“, bringt sie diese auf eine Formel. Gemessen an ihren Aufgaben seien die Kommunen unterfinanziert. Deshalb müsse einer Gebietsreform unbedingt eine Kritik der Aufgabenverteilung zwischen Land, Kreisen, Städten und Gemeinden vorausgehen.

Ein Schuss Lokalpatriotismus kommt hinzu. „Wir sind Franken“, bekräftigt die Landrätin. Das gegenüberliegende Coburg sei schon 1990 „eine Option“ gewesen, und mit einem Länderwechsel nach Bayern liebäugeln angesichts der engen Verflechtungen viele. Es wäre eine besondere Variante der „Gebietsreform“. Auch im Altenburger Land sympathisiert man mit einem Wechsel nach Sachsen. Und im Eichsfeld im Nordwesten zieht es manchen Lokalpatrioten nach Niedersachsen.

Traum von der Sezession

Allerdings – die Hürden für einen solchen Wechsel erscheinen unüberwindlich. Der Staatsvertrag zwischen Bayern und Thüringen, der nötig wäre, Volksentscheide in beiden Regionen und die Bestätigung des Bundestags setzen einen breiten Konsens voraus. Doch nicht einmal alle im kleinen Landkreis um die Spielzeugstadt Sonneberg fühlen so fränkisch wie der Süden. Schon in Steinach im Thüringer Wald bröckelt die Zustimmung für einen Wechsel nach Bayern. Für die Erhaltung des Kreises in seinen jetzigen Grenzen stimmte der Kreistag aber einstimmig. „Solange ich Landrätin bin, werde ich diesen Kreis verteidigen“, baut sich Christine Zitzmann auf.

Nicht nur südlich des Thüringer Walds regt sich Widerstand gegen die Landesneugliederung. Bei einer Anhörung zum „Vorschaltgesetz“ am 9. Juni in Erfurt überwogen die Gegner. Rund 400 Kommunalvertreter waren in den Landtag gekommen. Die große Mehrheit der Kreise lehne die Reform nicht grundsätzlich ab, aber in ihrer jetzigen Form, sagte die einflussreiche Präsidentin des Landkreistags und Greizer Landrätin Martina Schweinsburg (CDU). Das „Vorschaltgesetz“, das im Landtag am 23. Juni mit den Stimmen von Linken, SPD und Bündnis 90/Grüne beschlossen werden soll, sieht Untergrenzen von mindestens 6.000 Einwohnern je Gemeinde, 100.000 für kreisfreie Städte und 130.000 pro Landkreis vor.

Demnach blieben nur Erfurt und Jena kreisfreie Städte, Gera würde knapp am Quorum scheitern. Die bestehenden 69 kommunalen Verwaltungsgemeinschaften sollen aufgelöst und in große Landgemeinden mit mindestens 10.000 Einwohnern überführt werden. Für kommunale Zusammenschlüsse wird bis Oktober 2017 eine Freiwilligkeitsphase gewährt, den Landkreisen jedoch nicht.

Historischer Flickenteppich

Warum leistete sich das kleine Thüringen mit derzeit 2,2 Millionen Einwohnern noch 17 Landkreise, 849 Gemeinden und fünf kreisfreie Städte? Warum hat der Freistaat nicht längst seine Verwaltungsstrukturen gestrafft wie die anderen ostdeutschen Bundesländer? CDU-Innenpolitiker Wolfgang Fiedler ist der Einzige, der einen historischen Zusammenhang einräumt. Thüringen war kein einheitliches Herrschaftsgebiet wie Sachsen. Die Reste der Kleinstaaterei wirken nach. Reußen, Preußen, Sachsen, Mainzer und kleine Fürstentümer prägten den Flickenteppich. Als 1990 aus den DDR-Bezirken Erfurt, Gera und Suhl das Land Thüringen gebildet wurde, übernahm es 35 Kreise, deren Zahl 1994 bei einer ersten Reform halbiert wurde.

Die bis 2014 regierende CDU/SPD-Koalition unternahm 2013 mit der Einsetzung einer Expertenkommission einen weiteren Reformversuch. Das Interesse der Union hielt sich allerdings in Grenzen, nicht zuletzt weil sie eine starke Kommunalpartei ist und die Hälfte der Landräte stellte. Im Koalitionsvertrag von Rot-Rot-Grün ist die Gebietsreform nunmehr als das zentrale Großvorhaben der bis 2019 laufenden Wahlperiode verankert. Man habe schon zehn Jahre verloren, klagt Innenminister Holger Poppenhäger (SPD). Die Wirkung des Widerstandes gegen die Reform ist ihm aber anzumerken. „Wir müssen Thüringen wettbewerbsfähig halten“, rechtfertigt er eindringlich das Vorhaben.

Die Reste der Kleinstaaterei wirken nach. Reußen, Preußen, Sachsen, Mainzer und kleine Fürstentümer prägten den Flickenteppich

Zwar sind die Landesfinanzen derzeit intakt. Doch im Jahr 2019 läuft der Solidarpakt aus. Der Länderfinanzausgleich soll neu geregelt werden, mit zu erwartenden Einbußen für die Ostländer. Zudem endet 2020 die EU-Förderperiode, die dem Osten Deutschlands zusätzlich Einnahmen bescherte. All das fällt weg. Der Landesrechnungshof zählt deshalb zu den entschiedenen Befürwortern der Gebietsreform. Vor allem aber drückt der bis zum Jahr 2035 prognostizierte Bevölkerungsverlust. Gerade der Landkreis Greiz von Landrätin Schweinsburg dürfte dann ein Viertel weniger Einwohner zählen.

Köder für die Kommunen

Bei der Landtagsanhörung warf der CDU-Kommunalpolitiker Fiedler Innenminister Poppenhäger vor, keine Kalkulation der voraussichtlichen Kosten und erwarteten Einsparungen einer Gebietsreform vorzulegen. Klar ist bislang nur, welche Köder für die Kommunen ausgelegt werden. 155 Millionen Euro sogenannte Strukturhilfen sind eingeplant, weitere 100 Millionen für freiwillige Fusionen, 100 Euro je Einwohner. Ob sie sich rentieren, steht dahin. Kritiker verweisen auf Bundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern, wo Gebietsreformen zwar viel kosteten, Spareffekte aber nicht nachgewiesen wurden.

Im Landtag ist der Linken-Abgeordnete Frank Kuschel, selbst Verwaltungsrechtler, am meisten über den Vorwurf einer Nichtbeteiligung der Betroffenen empört. „Die ziehen das durch“, wiederholt beispielsweise formelhaft sein CDU-Gegenspieler Fiedler. „Ein solches Verfahren gab es noch nie“, kontert Kuschel. Man gehe weit über die verfassungsmäßige Anhörungspflicht der Spitzenverbände hinaus. Tatsächlich sind Abgeordnete und Innenminister derzeit häufig auf Reisen, wo sie in Regionalkonferenzen allerdings auch viel Prügel beziehen. Landräte, so lässt Kuschel durchblicken, seien allerdings auch nicht gerade an einer Stärkung der Kommunen und an breiteren demokratischen Entscheidungsprozessen interessiert.

Kuschel stellt auch klar, dass man „nicht unbedingt größere, aber andere Landkreise“ wolle. Den Gemeinden sollen mehr Aufgaben übertragen werden. Die dafür erforderliche Aufgabenkritik in einem ersten Schritt vorzuziehen und dann die territoriale Neugliederung einzuleiten, bleibe aber schlichtweg keine Zeit, räumt Innenminister Poppenhäger ein. Beides wird nun parallel betrieben. Die Kommunalwahlen 2018 sollen bereits in den neuen Strukturen stattfinden. Und bei der Landtagswahl ein Jahr später möchte Rot-Rot-Grün natürlich den Erfolg von 2014 wiederholen. Den Zoff um neue Kreisgrenzen wollen die Koalitionäre dann schon hinter sich haben.